Das ist die Krux, in der alle stecken, die schwerstkranke und/oder alte Menschen pflegen: Der Zustand wird sich nicht mehr bessern, sondern eher verschlimmern. Und am Ende jeden Lebens steht der Tod. Dennoch ist Optimismus eine wunderbare Eigenschaft, um diese fordernde Pflegezeit nicht nur durchzustehen, sondern rückblickend auch als wertvollen, bereichernden Lebensabschnitt betrachten zu können.

Augen zu und durch: Dieses bekannte Lebensmotto funktioniert vielleicht in kurzzeitigen unangenehmen Situationen. Und mit dieser Auffassung ist auch Susanne Ehrlich angetreten, als der Vater ihre Hilfe brauchte. Es begann schleichend. Otto Ehrlich wirkte erst ein wenig zerstreut, dann vergaß er im Alltag immer mehr. Als er nach einer Fahrt in die Stadt nicht mehr wusste, wo er sein Auto geparkt hatte, und die Tochter den Wagen erst nach langem Suchen in einem Parkhaus fand, ging Otto Ehrlich endlich zum Arzt. Der stellte eindeutig Alzheimer fest. Die Diagnose erschütterte nicht nur den Patienten. „Gemeinsam stehen wir das durch“, hatte Susanne Ehrlich anfangs noch gesagt und versucht, den Gedanken an das, was da noch folgen würde, zu verdrängen. Aber jetzt kann sie das nicht mehr.

Wenn der Vater die Wurst im Wäscheschrank versteckt und die Tochter sie dort verschimmelt findet,ist sie einfach nur genervt und schimpft. Otto Ehrlich wird dann auch wütend und unterstellt der Tochter, in seinen Sachen nach dem Schmuck der verstorbenen Mutter zu suchen. „Du kannst es wohl nicht erwarten, dass ich auch endlich abkratze!“, hat er ihr einmal zornig an den Kopf geworfen.Und Susanne Ehrlich stellt fest, dass der Tod des Vaters genau das ist, wovor sie sehr große Angst hat, was sie aber auch an besonders schlimmen Tagen fast herbeisehnt. „So kann es doch nicht weitergehen“, klagt Susanne Ehrlich, als sie meinen Rat sucht: „Ich weiß gar nicht, warum ich so ungeduldig mit meinem Vater bin. Er kann doch nichts dafür.“

Das ist schon mal eine gute Erkenntnis: Otto Ehrlich trägt keine Schuld. „Sie allerdings auch nicht“, sage ich der Tochter. „Aber was kann ich ändern?“, will sie wissen. Das ist eine Frage, die sich viele pflegende Angehörige stellen. Zuerst sollten sie sich Hilfe von außen holen, den Rest der Familie einbeziehen und zum Beispiel mit einer Beratungsstelle prüfen, welche Leistungen die Pflegekasse übernimmt. Aber das schlechte Gewissen, der Druck, die Sorge bleiben meistens trotzdem.

„Nehmen Sie die Situation so an, wie sie ist. Wenn Sie innerlich dagegen ankämpfen, kostet Sie das zu viel Energie“, lautet meine Empfehlung. Denn Fakt ist: Der Gesundheitszustand des Pflegebedürftigen wird nicht mehr besser, sondern schlechter. Sie als Angehörige können sich das 24 Stunden am Tag sagen, und dann werden auch Sie sich garantiert immer schlechter fühlen. Wenn dann noch dazu die Erkenntnis kommt, dass Sie älter werden, in Verpflichtungen gefangen sind und kein eigenes Leben mehr haben, ist der Burn-Out nicht weit. Es gibt aber auch eine andere, viel gesündere Möglichkeit, mit der Situation umzugehen. Nutzen Sie die Macht der Gedanken und suchen das Positive. Eine Frau, die einen meiner Kurse besuchte, brachte es wunderbar auf den Punkt. Sie berichtete: „Ich hadere nicht damit, dass mein Vater dement ist, sondern richte den Fokus auf die Zeit, die wir noch haben.“ Denn Zeit, das ist genau das, was sich Trauernde, die einen Menschen durch einen plötzlichen Tod verloren haben, oft wünschen. Bei aller Belastung bleibt dieser Trost: Wer einen Angehörigen bis zum Lebensende pflegt, kann sich bewusst verabschieden.

Dabei ist es wichtig, die richtige Balance zwischen Fürsorge und Selbstfürsorge zu finden. Optimismus bedeutet zum Beispiel, sich nicht über verlorene Minuten zu ärgern, weil die Mutter sehr langsam, der Pflegedienst zu spät oder das Wartezimmer voll ist. Das sorgt für zusätzlichen Stress. Wer sich in diesen Momenten einfach hinsetzt, um einen Kaffee zu trinken, eine Klatschzeitschrift zu lesen, mit der Mutter ein wenig zu plaudern oder auch einfach nur aus dem Fenster zu schauen und zu träumen, hat das nervige Warten als kleine Auszeit genutzt.

Ahnen Sie, worauf ich hinaus möchte? Betrachten Sie Situationen aus unterschiedlichen Perspektiven. So wie ungeplantes Warten zu einer willkommenen Pause werden kann, können auch andere Gefühle umgeleitet werden. Wie sagt der so oft strapazierte Volksmund: Alles Negative hat auch seine positiven Seiten. Optimisten sehen das Gute in vermeintlich schlechten Situationen. Das gibt Kraft und stärkt die eigene Gelassenheit. Und diesen Rat gebe ich auch Susanne Ehrlich mit auf den Weg.
Bei unserem nächsten Termin gesteht sie mir, dass ihr das nicht immer gelungen sei. „Aber es ist auch etwas Schönes passiert“, berichtet sie. Otto Ehrlich sei wütend gewesen, weil das Hochzeitsfoto, das immer auf der Anrichte im Wohnzimmer stand, verschwunden war. „Du hast es geklaut“, warf er der Tochter vor. „Natürlich musste ich schlucken und wollte im ersten Impuls losschreien“, gesteht Susanne Ehrlich. „Aber dann habe ich tief durchgeatmet und mich auf die Suche gemacht. Ich habe es auf seinem Nachttisch gefunden.“

Als die Tochter den Vater dorthin führte, habe dieser gestrahlt und mit Tränen in den Augen gesagt: „Ach, da hatte mein Engel wohl Sehnsucht nach mir.“ Mit einem Lächeln erinnert sich die Tochter an diesen Moment: „Es war so süß, und mir ist klar geworden, dass ich meine Eltern nie als Liebespaar wahrgenommen habe. Er erzählte mir dann, wie er auf einem Schützenfest das erste Mal ein Auge auf meine Mutter geworfen hat.“

Susanne Ehrlicher will mehr von diesem Teil ihrer Familiengeschichte erfahren. „Ich freue mich darauf, ihn auszufragen“, sagt sie und gesteht: „Früher hätte er das abgeblockt, aber die Demenz hat ihn auch sentimental gemacht.“ Ja, und da ist sie, die andere Perspektive, die gute Seite, der andere Fokus. Wir müssen uns nur die Chance geben, das auch zu erkennen. Nichts anderes ist Optimismus.

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