Mein 93-jähriger Vater will sterben. Er redet sogar davon, sich das Leben zu nehmen. Ich fühle mich ganz hilflos, wie kann ich damit umgehen?

Auch wenn unser Verstand weiß, dass der Tod unvermeidlich ist, fällt es uns schwer, unsere alten Eltern los- und gehenzulassen. Darüber offen zu reden, ist die beste Lösung. Eine gute medizinische Palliativversorgung kann diesen letzten Lebensabschnitt zudem zu einer kostbaren und sehr intimen Zeit für Eltern und Kinder machen.

Kurt Wagner (dieser und alle weiteren Namen geändert) wartet auf den Tod. Der 93-Jährige ist im Kopf hellwach, aber sein Körper ist unendlich müde. Er lebt zwar noch allein in seiner kleinen Wohnung. Aber er weiß, dass es eigentlich nicht mehr geht und seine Familie in ständiger Angst um ihn ist. Letztens ist er nachts aus dem Schlaf geschreckt und war so desorientiert, dass er um 3 Uhr seine Tochter angerufen hat. „Ich dachte, mir bleibt das Herz stehen“, berichtet Sandra Wielk von diesem Schockmoment. Kurt Wagner tut es leid, dass er seiner Tochter solche Sorgen bereitet. „Das beste wäre, ich würde endlich abkratzen“, sagt er nicht zum ersten Mal zu ihr. Sandra macht dieser Satz ganz krank. „Ich weiß, dass mein Vater darunter leidet, dass seine Kräfte schwinden. Aber er ist doch mein Papa, und ich bin froh über jeden Tag, an dem ich ihn noch habe“, betont die 65-Jährige.

Der Abschied auf Raten, er begann vor drei Jahren. Da verbot der Arzt Kurt Wagner, weiterhin Fahrrad zu fahren. Bis dahin hatte der Senior seinen geliebten Drahtesel noch aus dem Keller geschleppt – obwohl der nebenan wohnende Enkel ihm immer wieder angeboten hatte, das zu übernehmen. Aber die Gesundheit spielte nicht mehr mit, es wurde zu gefährlich. „Seitdem ging es bergab“, sagt Kurt Wagner. Dass er nicht mehr einfach losfahren konnte, wenn er Lust dazu hatte, machte ihn traurig. Die Krankheiten nahmen im Laufe der Zeit überhand, er wurde immer unbeweglicher, musste oft ins Krankenhaus, war sogar in der Kurzzeitpflege. Und er wurde immer lebensmüder. „Es macht doch alles keinen Sinn mehr“, sagt der 93-Jährige.

Gegenüber seiner Tochter redet er immer öfter davon, sterben zu wollen und vielleicht nachzuhelfen. Aber solche Gespräche unterdrückt sie im Ansatz. Doch beim letzten Krankenhausaufenthalt hat ein Pfleger ihn an einem Treppenabsatz eingesammelt. „Ich habe überlegt, mich fallen zu lassen. Solche Gedanken kommen automatisch, wenn es einem so schlecht geht“, betont er energisch. Sandra Wielk fällt hingegen aus allen Wolken, als sie im Gespräch mit der Ärztin von den Suizidgedanken erfährt. „Solch einen Tod könnte ich nicht ertragen“, sagt sie. Aber für sie ist auch klar, dass sie sich nun professionelle Hilfe holen muss.

„Ich habe es früher einfach nicht geschafft, mit meinem Vater über das Sterben zu reden. Es tat mir zu weh, darum habe ich immer abgeblockt“, gesteht sie: „Aber ich kann jetzt nicht mehr die Augen davor verschließen, dass Papas Zeit abläuft.“ Als der Hausarzt ihren Vater nach der Entlassung aus dem Krankenhaus besucht, schneidet sie darum das Thema an. Offen spricht der alte Mann mit seinem Arzt auch über seinen Suizidversuch. „Können Sie mir helfen?“, fragt er seinen langjährigen Arzt. „Ich möchte und werde Ihnen keine aktive Sterbehilfe leisten“, stellt der Doktor klar. „Aber ich kann sie dabei begleiten, dass sie möglichst ohne Schmerzen und verlängernde Maßnahmen gehen“, ergänzt er.

Es folgt ein ausführliches Gespräch über die Palliativmedizin. Zur Erklärung: Palliativ ist eine Abwandlung des lateinischen Wortes Pallium, also „Mantel“. Der Mantel schützt die Patienten, umhüllt sie, gibt Geborgenheit. Der Begriff beschreibt die Medizin, die sich mit der Behandlung von schwerst- und sterbenskranken Personen befasst. Sie bekommen eine individuelle, ganzheitliche Behandlung und menschliche Begleitung. Die Medikation hat allein den Zweck, Leiden zu lindern. So soll den Patienten auch bei fortschreitender Krankheit Würde und Lebensqualität ermöglicht werden. Allen Beteiligten gibt es dabei Sicherheit, wenn eine Patientenverfügung vorliegt.

Kurt Wagner leidet seit Langem an einer Herzschwäche, die massiv fortschreitet. Auch die Nieren arbeiten nicht mehr gut. Die Wassereinlagerungen im Körper waren auch zuletzt der Grund für seine Krankenhausaufenthalte. Eine Heilung ist nicht möglich. „Und wie geht es nun weiter?“, will er wissen. „Wir haben früher schon darüber gesprochen, dass wir wegen Ihrer Niereninsuffizienz eine Dialyse ins Auge fassen sollten“, erklärt ihm der Arzt. „Das will ich nicht, steht auch so in meiner Patientenverfügung“, begehrt der alte Mann sogleich auf. Der Arzt beruhigt ihn, dass er die Behandlung ablehnen dürfe. Er macht aber auch deutlich, dass Kurt Wagners Sterben dadurch beschleunigt wird. „Das ist gut so“, sagt der Patient.

Bei Sandra Wielk bleibt dennoch das Gefühl, dass ihr Vater quasi sein eigenes „Todesurteil“ verfügt. Aber in einer guten Palliativ-Behandlung werden auch die Angehörigen einbezogen und betreut, sie können mit Fachleuten über ihre Sorgen und Gedanken sprechen. Die Tochter nutzt dieses Gesprächsangebot. So schafft sie es, zu akzeptieren, dass der Tod nun kommt, wenn es soweit ist: „Natürlich ist es schwer für mich. Aber wenn er leidet, darf er gehen. “

Weil die Betreuung zu Hause auch mit einem Pflegedienst nicht mehr gut zu bewältigen ist, weist der Hausarzt Kurt Wagner nach wenigen Wochen auf die Palliativstation eines Krankenhauses ein. Von dort soll er ins Hospiz ziehen, sobald ein Platz frei ist. Ein „freier Platz“ im Sterbehaus bedeutet, dass andere Menschen dort den Weg gegangen sind, den Kurt Wagner noch vor sich hat. „Ich freue mich darauf“, betont er. Nach nur vier Tagen im Hospiz stirbt Kurt Wagner. Die ganze Familie kann sich von ihm verabschieden, fühlt sich in dem Haus geborgen und aufgefangen. Und alle haben nochmal laut zusammen gelacht, als das kleine Urenkelkind zum Opi unter die Decke geschlüpft ist, ihm seinen Kuschelhasen in den Arm gelegt und gesagt hat: „Wir drei machen Heia.“

„Das war eine unvergessliche Zeit für jeden von uns“, sagt Sandra Wielk rückblickend. „Als mein Vater die Entscheidung getroffen hatte, sich nur noch palliativ behandeln zu lassen, wurde er schlagartig zufriedener und ruhiger. Das hat sich auch auf mich positiv ausgewirkt.“ Sie habe in diesen Wochen nicht nur die lähmende Angst vor dem Tod des Vaters, sondern auch dem eigenen unvermeidlichen Lebensende verloren. „Ich konnte ihn mit all meiner Liebe gehen lassen. Es hört sich zwar sonderbar an, aber wir hatten einen richtig schönen Abschied. Das wünsche ich mir auch mal für mich.“

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