Wer sich mit der Pflege von Angehörigen allein gelassen fühlt, empfindet Überforderung, Ressentiments und Unzufriedenheit. Der einzige Weg aus der Situation: Mit anderen Beteiligten, etwa Geschwistern, sprechen. Denn die Wut in sich hineinzufressen, ist ebenso ungesund, wie bis zur unweigerlichen Explosion zu warten.

Birgit Peters (alle Namen geändert) ist zutiefst enttäuscht. Im Laufe der Jahre ist sie für ihre Eltern schleichend das „Mädchen für alles“ geworden. Dass sie dafür keinen großartigen Dank bekommt, hat die 58-Jährige klaglos hingenommen. Doch ein unbedarft geäußerter Satz ihres 30-jährigen Neffen hat sie ins Mark getroffen: „Omas Schmorgurken waren wieder richtig lecker!“ So erfährt sie zufällig, dass ihre jüngere Schwester Monika mit ihrem Sohn zum Essen eingeladen war. In Birgit Peters brodelt es: Sie ist wütend auf ihre Schwester, die nicht sieht, dass ihre Eltern sich sehr anstrengen müssen, um mehrere Leute zu bewirten. Sie ist aber auch neidisch, denn ihre Mutter hat schon seit einer Ewigkeit nicht mehr für sie gekocht. „Ich erwarte das auch gar nicht, weil ich weiß, dass es ihr schwerfällt, lange am Herd zu stehen“, sagt die Tochter, „aber, dass die sich hinter meinem Rücken einen schönen Tag machen, finde ich ungeheuerlich. Ich bin wohl nur noch die Haushaltshilfe.“

Nun ist Birgit von Natur aus hilfsbereit. Sie ist Friseurin, seit Jahrzehnten fährt sie samstags vom Salon aus direkt zu den Eltern. Die Mutter bekommt jede Woche „waschen und legen“ gratis, alle vier Wochen schneidet sie beiden Eltern die Haare. Irgendwann fing es an, dass sie samstags auch einige Einkäufe mitbrachte. Mittlerweile diktiert die Mutter ihr regelmäßig eine Liste. Erst übernahm Birgit einige Hausarbeiten, wie Gardinenwaschen und Fensterputzen, damit die Mutter nicht auf der Leiter herumturnte. Jetzt kommt sie alle 14 Tage, um die Wohnung durchzuputzen. Ihre Arzttermine legen die Eltern selbstverständlich auf Birgits freien Montag, damit die Tochter sie dann fahren und begleiten kann. „Monikas Besuche sind für deine Eltern etwas Besonderes, du bist Alltag,“, sagt ihre Freundin, der sie ihren Frust und ihre Enttäuschung klagt. „Und für deine Schwester ist das natürlich sehr bequem. Du musst sie fordern“, macht ihre Freundin Birgit Mut: „Denn wie willst du allein mit allem fertig werden, wenn deine Eltern noch mehr Hilfe benötigen?“

Ein Glück, dass Birgit eine so ehrliche Freundin hat. Denn in Familien ist es selten so, dass Geschwister sich die Fürsorge für die erst hilfs- und irgendwann auch pflegebedürftigen Eltern gerecht aufteilen. Und leider gibt es keinen pauschalen Lösungsweg. Aber: Die Situation kann sich nur ändern, wenn darüber gesprochen wird. Das bedeutet, pflegende Angehörige müssen das Thema offen und ehrlich auf den Tisch bringen. Das sollte nicht der 80. Geburtstag oder die Goldhochzeit sein. Besser ist es, ein Familientreffen zu vereinbaren, bei dem vorab festgelegt wird, worum es geht. Damit das Gespräch sachlich und effektiv verläuft, ist es wichtig, dass jeder Beteiligte die Möglichkeit hat, seine Sichtweise auszudrücken, und zwar ohne Unterbrechung oder Bewertung. Denn Wutausbrüche, Vorwürfe und Beschimpfungen – auch wenn sie uns auf der Zunge liegen mögen – sind absolut kontraproduktiv.

Optimal ist es, wenn die Familienmitglieder gemeinsam einen Pflegeplan aufstellen, in dem die verschiedenen Aufgaben und Verantwortlichkeiten klar definiert und verteilt werden. Das kann dazu beitragen, Missverständnisse zu vermeiden und sicherzustellen, dass die Last gerechter verteilt wird. Ganz wichtig: Der Plan gilt nicht für die Ewigkeit, sondern muss von den Beteiligten regelmäßig überprüft und angepasst werden.

Dennoch wird es wahrscheinlich nicht möglich sein, die Aufgaben absolut gerecht zu verteilen. Der eine hat kleine Kinder, der andere einen zeitintensiven Beruf oder, oder, oder. Da ist es möglich, nach flexiblen Lösungen zu suchen. Wer zum Beispiel nicht in derselben Stadt wohnt, kann die ebenfalls zeitintensiven Schriftwechsel mit Pflegekasse, Versicherungen, etc. führen oder sich gezielt einen freien Tag nehmen, um das Elternteil zu einem langfristig geplanten, aufwändigen Arztbesuch zu begleiten.

Birgit Peters will es auf diesem Wege versuchen. Sie lädt ihre beiden Geschwister zu sich ein, um über die Situation zu sprechen. Doch das Treffen läuft anders, als sie es sich erhofft hat. Der Bruder verlässt den liebevoll gedeckten Kaffeetisch schon nach 20 Minuten, weil er einen wichtigen beruflichen Termin hat, und vertröstet Birgit: „Wir reden ein andermal.“ Die Schwester Monika sagt rundheraus, dass die Eltern doch noch gut klarkämen und es Birgits Pech sei, wenn sie ihnen alles abnähme. „Du hast eben ein Helfersyndrom“, wirft sie ihr an den Kopf. Birgits Bitte, die Eltern wenigstens zu den Arztterminen zu begleiten, lehnt sie ab: „Sollen Sie sich doch ein Taxi rufen.“ Ein Wort ergibt daraufhin das andere, die Schwestern trennen sich im Streit. Auch ein Gespräch mit den Eltern ist erfolglos. „Wir dachten, du hilfst uns gerne“, meint die Mutter vorwurfsvoll.

Ihre „Kummerkasten-Freundin“ rät Birgit Peters dazu, sich Hilfe von außen zu holen. „Ich bin zu parteiisch“, lehnt sie jedoch die Bitte ab, die Moderation zu übernehmen. Tatsächlich ist es in solch vertrackten Situationen sinnvoll, einen neutralen Dritten hinzuzuziehen. Auch ich begleite pflegende Angehörige auf dem Weg, ihre Work-Life-Care-Balance zu finden und berate Familien.

Manchmal müssen wir jedoch hinnehmen, dass eine perfekt gerechte Verteilung der Pflegeverantwortung nicht möglich ist. Da kann es zum Selbstschutz hilfreich sein, zu lernen, Ressentiments loszulassen und sich auf das Positive zu konzentrieren, um den familiären Zusammenhalt zu bewahren. Ich rate den Teilnehmenden in meinen Seminaren, sich regelmäßig die Frage zu stellen: „Kann ich etwas ändern?“ Und wenn die Antwort darauf Nein lautet, die Situation zu akzeptieren und sich zu sagen: „Es ist wie es ist.“

Jede Familie ist einzigartig. Dennoch ist der Schlüssel zum Umgang mit Ungleichheiten in der Pflegeverantwortung die Bereitschaft, offen zu kommunizieren, Unterstützung zu suchen und kreativ nach Lösungen zu suchen, die für alle Beteiligten funktionieren.

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