Weihnachtsgeschichte 2023

Mein sehnlichster Wunsch in der Kindheit? Klavier zu spielen! Umso glücklicher war ich als Achtjährige, als meine Eltern meinem Bruder und mir versprachen, dass wir Musikunterricht bekommen dürften. Die Instrumente sollte das „Christkind“ bringen, an das wir Kinder natürlich längst nicht mehr glaubten.

Heiligabend: Endlich war es Zeit für die Bescherung. Ich hatte mich wohl gewundert, dass bislang nichts angeliefert worden war, das von der Größe her einem Klavier entsprechen konnte. Das passt schließlich in keinen Schuhkarton. Aber ich glaubte weiter an das Weihnachtswunder. Als sich die Tür zur guten Stube öffnete, stürzte sich mein Bruder gleich mit Freuden auf die Gitarre, die für ihn unterm Tannenbaum lag. Er zupfte ein wenig an den ungestimmten Saiten herum, steckte aber bald lieber seine Nase in den neuen Comic, den er sich ebenfalls gewünscht hatte.

Ich schaute mich suchend um, entdeckte jedoch nur einen Koffer. „Willst du nicht reinschauen?“, fragte meine Mutter. „Was ist das?“, wunderte ich mich. „Na, was denkst du denn?“, meinte sie. Ich schob die Riegel an den beiden Schlössern zur Seite, mit einem Klackern öffneten sich die Verschlüsse. Beim Öffnen sah ich erst den roten Samt des Futterals, dann tauchten weiße und schwarze Tasten auf, schließlich lag die Bescherung in all ihrer Pracht vor mir: ein Akkordeon. „Freust du dich? Du hast dir doch schon lange so sehr ein Schifferklavier gewünscht“, jubelte meine Mutter.

Meine pubertierende, große Schwester, die nie ein Blatt vor den Mund nahm, wäre nun ausgeflippt und hätte gemeckert, dass die Eltern uns Kindern wohl nie richtig zuhören. Ein Schifferklavier sei ja wohl alles, aber kein Klavier… Doch als liebes Nesthäkchen wollte ich meiner Mama keinesfalls wehtun. So schluckte ich tapfer meine bittere Enttäuschung herunter und heuchelte Begeisterung: „Ein Schifferklavier, wie schön!“ Papa half mir, die Träger anzulegen. Das 14 Kilo schwere Instrument brachte mich ins Taumeln, schnell schob er mir einen Stuhl in die Kniekehlen und ich ließ mich drauf plumpsen. In meinen Träumen hatte ich aufrecht an einem schwarzen, glänzenden Klavier gesessen, die Finger leicht über die Tasten tanzen sehen. Nun wurde ich von einem schweren, roten Akkordeon erdrückt.

Stockend quetschte ich das erste “O Tannenbaum” hervor

Immerhin: Auf meinen Spielzeugklavier hatte ich mir selbst einige einfache Weihnachtslieder beigebracht. Und nachdem ich es mit Mühe schaffte, den Balg in Bewegung zu setzen, quetschte ich das erste „O Tannenbaum“ hervor. „Im Januar beginnt euer Unterricht an der Musikschule“, verkündeten die Eltern stolz.

Mein Bruder war zuerst dran. „Ich will mit etwas von ,Queen‘ anfangen“, tönte er. Ernüchtert kam er zurück. „Was hast du gelernt?“, wollte ich wissen. Zerknirscht packte er die Gitarre aus, öffnete das Notenbuch und sang mit schiefen Stimmbruch-Tönen: „Die Gedanken sind frei.“ Dazu schrubbte er im Wechsel drei einfache Akkorde. Nach der nächsten Unterrichtsstunde hängte er Gitarre und Musikkarriere an den Nagel.

Meine Musikschul-Premiere begann anstrengend. Denn das „Taxi Mama“ gab es in den 1970er-Jahren noch nicht. Mein Akkordeon wurde auf das Gestell eines „Hacken-Porsches“ geschnallt. Immerhin trug meine Mutter das schwere Akkordeon vom zweiten Stock vor die Haustür. Von dort musste ich die knapp zwei Kilometer laufen, das ungeliebte, sperrige Anhängsel hinter mir herzerrend. Im Märchen wäre die erste Stunde der Beginn einer sagenhaften Musikkarriere gewesen. Aber ehrlich: Fortan schleppte ich mich jeden Montag lustlos zur Musikschule. Der Unterricht wurde auch für meinen Lehrer zur Qual, denn meine Aufopferungsbereitschaft war nicht so groß, als dass ich zu Hause freiwillig geübt hätte. Und meine von der Arbeit erschöpften Eltern waren froh, dass ich sie nicht mit meinem Gedudel nervte.

„Du hast dir sehnlichst ein Schifferklavier gewünscht“
So vergingen fünf lange Jahre, in denen es mein größter Erfolg war, „O, Tannenbaum“ in einer zweistimmigen Variante zu spielen und dem schlichten Stück durch die Bässe wenigstens einen Anschein von Tiefe zu geben. In der Pubertät war ich zwar weit davon entfernt, aufmüpfig zu werden. Aber immerhin traute ich mich irgendwann, meiner Mutter zu gestehen, dass ich keinen Musikunterricht mehr wollte. „Du hast dir doch so sehnlichst ein Schifferklavier gewünscht“, versuchte sie, mich umzustimmen. Da sagte ich ihr endlich, dass ich doch immer ein richtiges Klavier haben wollte. Mama schluckte. „Ich wusste es ja eigentlich“, gab sie zu. „Aber ein großes Klavier war zu teuer und wir hatten doch keinen Platz dafür“, erklärte sie, warum sie mir das Akkordeon untergeschummelt hatte. Und dass sie gehofft hätte, ich würde auch daran Freude haben. Nun hatte ich wiederum ein schlechtes Gewissen, mich nicht mehr angestrengt zu haben.

Dennoch wanderte das Schifferklavier in eine Ecke. Nur zu Weihnachten holte ich es auf Mamas Bitten raus und klimperte Weihnachtslieder. Aber als ich in meine erste eigene Wohnung zog, war ich auch davon erlöst. Obwohl ich es nie gemocht hatte, schleppte ich das Instrument vier weitere Jahrzehnte durchs Leben. Als ich vor dem letzten Umzug den Keller aufräumte, fand ich den verstaubten Koffer in der Treppennische, wo ich ihn 15 Jahre zuvor abgestellt und vergessen hatte. Ich hockte mich auf eine Stufe und öffnete die Schnappverschlüsse. Da lag es, wie Weihnachten 1974, im roten Samtbett. Als ich es umhängte und die klebrigen Tasten drückte, klang es fast wie früher. Allerdings müffelte es streng nach Keller. „Unsere Wege trennen sich jetzt“, sagte ich bestimmt und klappte den Koffer ein letztes Mal zu. Meine Mutter war vor einigen Jahren gestorben – und nun konnte ich auch das Akkordeon loslassen.

Nach fast 50 Jahren den Ballast abgeworfen

Meine Bemühungen, das Instrument loszuwerden, waren vergeblich. Die E-Mails an ein Orchester und die Musikschule, dass ich ein Akkordeon kostenlos abzugeben hätte, blieben unbeantwortet. Auf eine Anzeige im Internet hatte ich keine Lust. So bugsierte ich den Koffer mit allerlei anderem Zeug und einem Schild „Zu verschenken“ in unseren Eingang an die Straße. Als ich eine zweite Kiste mit Büchern dazustellen wollte, war sie schon weg, die olle Quetschkommode. Ich erspähte noch einen einfach gekleideten Herrn mittleren Alters, der den Koffer davontrug und trotz des Gewichts leichtfüßig unterwegs war. Und was fühlte ich? Pure Erleichterung. Endlich, nach fast 50 Jahren, hatte ich diesen Ballast meiner Kindheit abgeworfen.

Wenige Wochen später schlenderte ich über den Weihnachtsmarkt in unserer Stadt. Da hörte ich aus der Ferne Akkordeonmusik. Der Spieler verstand sein Handwerk, so schön und beschwingt hatten meine Weihnachtslieder nie geklungen. Neugierig folgte ich den Klängen, und da sah ich sie: den Herrn mittleren Alters und mein altes, nein, sein neues Schifferklavier. Ich holte einen Fünfer aus dem Geldbeutel und warf den Schein in den aufgestellten, mit rotem Samt ausgekleideten Koffer. „Sie spielen sehr schön. Meiner Mama hätte es gefallen“, sagte ich. Er dankte mir mit einem Nicken und einem Lächeln. Ich glaube, er hat kein Wort verstanden.

Übrigens: Mit Mitte 20 konnte ich mir meinen Herzenswunsch selbst erfüllen. Da hatte ich endlich genügend Geld für ein eigenes Klavier zusammengekratzt. Das glänzend schwarze Instrument steht im Wohnzimmer. Unterricht nehme ich bis heute und nicht selten entschuldige ich mich bei meinem Klavierlehrer, weil ich die ganze Woche nicht zum Üben gekommen bin. Aber ich werde niemals aufhören, zu spielen. Das ist sicher.

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Danke! Das hat geklappt.