„Eigenbedarf“ – ein einziges Wort, das unser Leben von heute auf morgen auf den Kopf stellte. Nach 15 Jahren müssen wir wegen Eigenbedarf aus unserer Wohnung ausziehen – ein Abschied, der mich spüren lässt, wie es für ältere Menschen sein muss, ihr Zuhause aufzugeben.
Mitten im Chaos zwischen Kartons und Gefühlen habe ich etwas verstanden, das auch für Pflegebedürftige und pflegende Angehörige entscheidend ist: Zeit, Selbstbestimmung und Gelassenheit sind wichtig, wenn es ums Abschiednehmen vom Zuhause geht.
Heute geht es einmal nicht um Ratsuchende – sondern um meine eigene Situation. Denn Ende Juni traf es uns wie ein Blitz aus heiterem Himmel: Unsere Vermieterin saß völlig aufgelöst vor uns und teilte mit, dass sie uns nach 15 Jahren wegen Eigenbedarf kündigen müsse.
Nach dem ersten Schock haben wir uns sehr schnell beschlossen, den Kopf jetzt nicht in den Sand zu stecken, sondern aktiv zu werden. Vor allem wollten wir nicht zu sehr auf das schauen, was wir verlieren – besser ist es, den Blick auf die Chancen zu richten, die in dieser Veränderung liegen. Wir begannen zu recherchieren, erste Wohnungen anzusehen – und entwickelten dabei immer mehr Klarheit, was wir wollen und was wir nicht wollen. In so einer Ausnahmesituation ist es gut, wirklich miteinander reden zu können. O.K., ich gebe zu: Es hat auch manchmal gekracht 😉 – aber wir konnten alles zeitnah klären und reflektieren. Und das ist wichtig: Konflikte gehören in solchen Situationen einfach dazu. Entscheidend ist, wieder ins Gespräch zu kommen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen.
Weil ich im letzten Jahr intensiv daran gearbeitet habe, meine Emotionen klarer wahrzunehmen, konnte ich das auch hier umsetzen. Ich habe ein echtes Gefühlschaos erlebt:
- Trauer und Schmerz, weil ich mein Zuhause und meinen geliebten Garten aufgeben muss.
- Wut, weil ich nicht selbst entscheiden durfte. Dazu gesellten sich immer mal wieder Angst und Verzweiflung: „Es wird bestimmt schwer, eine neue Wohnung zu finden.“
- Fassungslosigkeit: Warum gerade wir?
- Scham und Neid: Warum haben wir nicht längst gekauft? Immer wieder musste ich mich an die Gründe für unsere (damalige) Entscheidung erinnern.
Aber da waren auch positive Gefühle: Stolz, Optimismus, Neugier, Pragmatismus und Mut. Diese Eigenschaften haben wesentlich dazu beigetragen, dass wir schon nach wenigen Wochen eine neue Wohnung gefunden hatten. Darauf bin ich sehr stolz.
Warum schreibe ich das alles?
Weil mich diese Erfahrung auf einer tieferen Ebene daran erinnert hat, wie es für ältere Menschen sein muss, die eigene Wohnung aufzugeben und in ein Pflegeheim zu ziehen. Ein Thema, über das ich schon lange arbeite und schreibe – das mich jetzt aber persönlich eingeholt hat.
Drei Gedanken dazu
- Entscheidungsprozesse brauchen Zeit
Ein Zuhause ist mehr als vier Wände – es steckt voller Erinnerungen, vertrauter Abläufe und Sicherheit. Wenn die Nachricht kommt, dass man ausziehen muss oder selbst spürt, dass die Wohnung nicht mehr passt, ist der erste Impuls oft: „Das kann doch nicht sein!“
Auch ältere Menschen, die ihr Zuhause verlassen sollen, reagieren häufig mit Ablehnung. Nicht, weil sie stur sind, sondern weil sie Zeit brauchen: Zeit, den Abschied zu begreifen, Zeit, Ängste vor dem Unbekannten zu sortieren und eigene Ideen zu entwickeln.
Mein Tipp:
Machen Sie Vorschläge – und geben Sie dann Raum. Schreiben Sie verschiedene Optionen auf, legen Sie sie zur Seite und sprechen Sie erst nach einiger Zeit wieder darüber. So entsteht die Möglichkeit, dass sich innere Prozesse entwickeln und ein echtes „Ja“ oder „Nein“ wachsen kann.
- Selbstbestimmung
Am meisten getroffen hat mich bei der Kündigung, dass ich nicht selbst entscheiden konnte. Von außen betrachtet war alles nachvollziehbar – aber innerlich tobten die Gefühle. Erst als wir für uns sagten: „Auch wenn sich unsere Vermieterin umentscheiden würde – wir gehen trotzdem“, kam die Kraft zurück.
Für jeden Menschen – und natürlich auch für ältere Menschen – spielt Selbstbestimmung eine große Rolle: Gehe ich freiwillig in eine kleinere Wohnung oder ins Pflegeheim – oder warte ich so lange, bis andere für mich entscheiden müssen? Selbstbestimmung bedeutet nicht immer, dass die Wahl objektiv „vernünftig“ ist. Vielleicht möchte jemand unbedingt in einer großen Wohnung bleiben, auch wenn es mühsam wird. Oder er entscheidet sich bewusst für eine bestimmte Einrichtung, die ihm gefällt. Wichtig ist, dass die Entscheidung selbst getroffen wird – nicht über den Kopf hinweg.
Auch Kinder erleben in solchen Momenten ein Gefühlschaos: Sorgen, Ungeduld, manchmal auch Wut oder Schuldgefühle. Das ist völlig normal – schließlich sind sie betroffen, wenn sich die Wohnsituation der Eltern verändert.
Mein Tipp:
Als Tochter oder Sohn ist es nicht leicht auszuhalten, wenn die Eltern scheinbar „unvernünftige“ Entscheidungen treffen. Versuchen Sie trotzdem, ihnen so viel Selbstbestimmung wie möglich zu lassen. Fragen Sie: Was ist Dir wirklich wichtig – und worauf könntest Du verzichten? Schreiben Sie diese Antworten gemeinsam auf. Und üben Sie, die eigenen Vorstellungen vom „richtigen“ Lebensort der Eltern ein Stück loszulassen – auch wenn Sie es selbst vielleicht anders machen würden.
- Gelassenheit darf wachsen
Einen Umzug kann man noch so gut planen – manches liegt einfach nicht in unserer Hand. Ich habe gemerkt: Je schneller ich Vertrauen finde, dass es am Ende eine Lösung geben wird, desto eher stellt sich Gelassenheit ein.
Das gilt auch für ältere Menschen, die ihr Zuhause verlassen: Die Angst, nicht das Richtige zu finden, ist groß. Aber wer auf die eigenen Stärken und Erfahrungen schaut, spürt eher: „Ich habe schon vieles gemeistert, also werde ich auch diese Veränderung schaffen.“
Mein Tipp:
Auch als Tochter oder Sohn können Sie Gelassenheit stärken. Erinnern Sie sich gemeinsam mit Ihren Eltern an Situationen, die sie schon gemeistert haben – vielleicht den letzten Umzug, eine Krankheit oder andere Herausforderungen. Das macht bewusst: Wir haben schon vieles geschafft. Und es hilft, Vertrauen zu entwickeln, dass auch jetzt eine Lösung gefunden wird. Gleichzeitig dürfen Sie selbst prüfen: Welche Erfahrungen haben Sie schon gemacht, in denen es zunächst aussichtslos schien – und die sich dann doch gefügt haben? Dieses doppelte Erinnern – bei den Eltern und bei Ihnen selbst – gibt Kraft und Zuversicht.
Und jetzt? Worauf es für mich ankommt
Die eigene Wohnung zu verlieren ist ein tiefer Einschnitt – egal ob mit 50 oder mit 85.
Was hilft, sind Zeit für Entscheidungen, das Recht auf Selbstbestimmung und das Vertrauen, dass es immer eine Lösung gibt.
Wir selbst ziehen im Herbst in unsere neue Wohnung – und ich bin gespannt, welche Chancen uns dort erwarten. Vielleicht entdecke ich sogar neue Seiten an mir, die ich ohne diesen unfreiwilligen Umzug nie kennengelernt hätte.
Und Sie? Wenn Sie an Ihre eigene Situation denken: Welche Entscheidung rund um das Thema Wohnen und Pflege möchten Sie vielleicht schon heute in Ruhe vorbereiten, damit Sie später handlungsfähig bleiben?
Liebe Silke, wie schön, wieder von Ihnen zu lesen. Und dann melden Sie sich gleich mit einem solch bewegenden Bericht zurück. Vielen Dank für Ihre Offenheit, die uns zeigt, dass auch Expertinnen wie Sie zuallererst Menschen sind, die eine traurige Erfahrung nicht mit links und guten Ratschlägen allein meistern können.
Ja, das eigene Zuhause zu verlieren, quasi weggenommen zu bekommen und damit die Selbstbestimmung zu verlieren, ist eine traumatische Erfahrung. Ich habe das bei meinen Schwiegereltern erlebt. Leider hatten sie damals alle frühzeitigen Planungen energisch immer wieder abgelehnt, und dann kam der unausweichliche Umzug ins Pflegeheim…Es dauerte etwas bis zur Erkenntnis, dass es eine gute Entscheidung war.
Ich wünsche Ihnen einen guten Umzug und einen glücklichen Start in der neuen Wohnung.
Herzliche Grüße!
Liebe Silvia,
ganz herzlichen Dank für Ihre lieben Worte und dafür, dass auch Sie Ihre eigene Erfahrung teilen. Ja – dieses „plötzliche Weggenommen-Werden“ ist wirklich etwas, das tief berührt und oft erst einmal ohnmächtig macht. Umso wichtiger ist es, dass wir auch über die schmerzhaften Seiten sprechen – und dass Angehörige merken: sie sind mit diesen Gefühlen nicht allein.
Es freut mich sehr, dass Sie schreiben, dass sich der Umzug Ihrer Schwiegereltern am Ende als gute Entscheidung herausgestellt hat. Genau diese Geschichten machen anderen Mut, die gerade mitten in diesem Prozess stehen.
Und danke auch für Ihre guten Wünsche für unseren Umzug – die kann ich gerade wirklich gut gebrauchen 😊🌿.
Herzliche Grüße
Silke
Liebe Frau Niewohner,
danke für den interessanten und bewegenden Beitrag. Die Parallelen zu einem unfreiwilligen Umzug in ein Pflegeheim sind überraschend logisch und geben hilfreiche Denkanstöße. Ich bin sehr froh, dass sich meine heute 81-jährige Mutter nach dem Tod unseres Vaters vor ein paar Jahren frühzeitig und freiwillig entschlossen hat, aus ihrer 100qm Altbauwohnung (im zweiten Stock ohne Aufzug) in eine kleinere altersgerechte Wohnung umzuziehen. Der Abschied von der Wohnung, in der sie über 50 Jahre gelebt hatte, ist ihr dann natürlich nicht leicht gefallen, aber sie fühlt sich jetzt superwohl in der kleinen Wohnung und genießt ihr Leben. Und zumindest ist sie jetzt mit Aufzug und barrierefreiem Bad für mögliche kommende körperliche Einschränkungen erstmal gut vorbereitet, so hoffen wir jedenfalls. Ich kann ein frühzeitiges Sprechen mit den Eltern über altersgerechte Wohnformen – nämlich bevor es ad hoc plötzlich notwendig ist und man dann keine Zeit mehr für die Suche nach schönen Wohnmöglichkeiten hat – nur sehr empfehlen!
Schöne Grüße,
Claudia
Liebe Claudia, vielen Dank für diesen bewegenden Kommentar und das Teilen der Geschichte. Er macht deutlich, dass ein frühzeitiger, freiwilliger Schritt – auch wenn er zunächst schwerfällt – eine große Chance bietet: selbstbestimmt zu handeln und danach wieder Lebensqualität zu gewinnen.
Das Beispiel zeigt eindrücklich, dass ein Umzug nicht nur Verlust bedeutet, sondern auch Freiheit, Komfort und Sicherheit für die Zukunft. Solche positiven Erfahrungsberichte können anderen Angehörigen Mut machen, das Gespräch rechtzeitig zu suchen.
Liebe Silke, ich kann nur ahnen wie schwer es Euch gefallen ist. Man packt nicht nur Kisten, man packt Erinnerungen, Routinen, Gerüche. Das tut an Stellen weh, von denen man vorher gar nichts wusste.
Beim Wohnen im Alter heißt das für mich: nicht erst im Alarmmodus planen. Ich will jetzt mit meinen Eltern festhalten, was unverhandelbar mitzieht (Menschen, Dinge, Gewohnheiten), Vollmachten und Zugänge sauber bündeln und eine einfache „Wie gehen wir’s an?“-Abfolge parat haben. Und wir klären, wer in der Familie welche Schritte übernimmt – inklusive Luft im Kalender, damit der Übergang nicht auf Kosten von Gesundheit oder Job geht. Für mich selbst nehme ich mit: früh Orte suchen, die nach Nachbarschaft klingen, nicht nach Quadratmetern. 🏡
Zur Frage: Die Entscheidung, die ich heute vorbereiten möchte, ist ein gemeinsames „Wenn-dann“-Szenario – wo wäre Plan A, was wäre ein realistischer Plan B, und welche drei Dinge müssen unbedingt mit, damit es sich weiterhin nach Zuhause anfühlt.
Lieber Andreas,
herzlichen Dank für Deinen so berührenden und gleichzeitig unglaublich praxisnahen Kommentar 💚. Du beschreibst etwas, das viele Angehörige spüren, aber selten so klar in Worte fassen: Beim Umzug geht es nicht nur um Kisten – es geht um Erinnerungen, Routinen, Gerüche, kurzum um das Gefühl von Zuhause.
Deine Haltung „nicht erst im Alarmmodus planen“ finde ich großartig – und Dein Wenn-dann-Szenario ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie Familien Verantwortung teilen und gleichzeitig die Bedürfnisse aller im Blick behalten können.
Ich bin mir sicher: Deine Gedanken sind für viele Leser*innen hier eine wertvolle Anregung. Danke, dass Du Deine Erfahrung teilst! 🙏