Sind Sie das einzige Mädchen der Familie? Wohnen Sie als einziger von drei Brüdern in der Nähe der Eltern? Haben Sie wegen Ihrer Kinder zurückgesteckt? Sind Ihre Geschwister beruflich eingespannter als Sie? Wenn Sie nur eine Frage mit Ja beantworten, ist es sehr wahrscheinlich, dass der Hauptteil der Pflege bei Ihnen liegt. Aber das muss nicht so bleiben. Setzen Sie sich mit Ihren Geschwistern an einen Tisch und verteilen in Ruhe die Aufgaben. Allerdings: Dabei müssen Sie Ihren Standpunkt deutlich vertreten, denn Ihre Geschwister werden die weitere Verantwortung wahrscheinlich zunächst abwehren.

Sandra Werner ist am Ende ihrer Kräfte. Vor einem Jahr fing es an: Die Mutter, die sich um den kranken Vater gekümmert hatte, starb plötzlich. Für ihre Trauer blieb der 34-Jährigen kaum Zeit, von jetzt auf gleich übernahm sie all die Pflichten der Mutter. Nach der Arbeit fuhr sie zu ihrem Vater: Sie versorgte ihn, putzte das Haus, die Wäsche nahm sie mit zu sich. Sie kümmerte sich um seine Arzttermine, die Medikamentengabe, alles Bürokratische. Denn fremde Hilfe, die wollte der alte Mann nicht. Zum Glück hatte Sandra gleitende Arbeitszeiten und konnte schon um 6.30 Uhr anfangen. So kam sie um 15 Uhr aus dem Büro, fuhr von dort täglich zum Vater, eilte dann nach Hause. Da warteten zwar keine Kinder, aber ein Mann und eine große Wohnung auf sie. Gemütliche Abende auf dem Sofa verschlief sie nur noch, falls sie nicht direkt ins Bett fiel. Schließlich klingelte der Wecker um 5 Uhr. Ihr Vater beschwerte sich. Ihr Mann klagte, dass von ihrem schönen Leben nichts mehr übrig sei. „Was machen eigentlich deine Geschwister?“, fragte er vorwurfsvoll. Darüber hatte Sandra auch schon nachgedacht und sich oft insgeheim geärgert.

Aber ihre Schwester hatte mit ihren zwei Kindern viel zu tun. Und der Bruder wohnte 300 Kilometer weit weg. „Dann muss Papa eben ins Heim“, lautete seine lapidare Antwort, als Sandra andeutete, dass sie sich mit der Pflege allein gelassen fühlte. Und ihre Schwester meinte nur: „Vati gibt dir schließlich das Geld von der Pflegekasse.“ Und fügte dann noch spitz hinzu: „Du warst ja auch immer sein Lieblingskind.“ Sandra Werner hatte seitdem kein Wort mehr ihren Geschwistern gesprochen. „Du kennst die doch, sie denken nur an sich“, erklärte Sandra Werner ihrem Mann resigniert. Und schon stritten sie beide sich auch noch.

„Ich kann es keinem recht machen“, klagte Sandra Werner in einem Coaching bei mir. Und damit hat sie ein Grundproblem ausgesprochen. In ihrem Bemühen, es allen recht zu machen, hat sie ihre eigenen Bedürfnisse vergessen. „Aber jemand muss sich doch um Papa kümmern“, wendet sie ein. Das stimmt, aber sie ist nicht dazu verpflichtet, diese Last ganz allein zu tragen. Ich schlage ihr vor, dass sie die Situation einmal mit Abstand betrachtet – allein, oder noch besser zu zweit mit einer unbeteiligten Personen, etwa einer Freundin. So kann sie ihre Lage sortieren und wichtige Erkenntnisse gewinnen. Dazu zählt, dass sie die Vergangenheit und mögliche familiäre Konflikte ebenso wenig ändern kann wie ihre Geschwister. Sie kann aber ihre eigene Haltung und Einstellung beeinflussen. Dazu muss Sandra Werner sich zunächst einmal bewusst machen, was sie selbst will. Welches sind ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche im Spannungsfeld zwischen Fürsorge und Selbstfürsorge? Und wissen ihre Geschwister das? Es ist sehr viel effektiver, konkrete Forderungen zu stellen als pauschal  zu klagen: „Ihr müsst Papa auch pflegen.“ Vor dem dringend notwendigen Gespräch mit den Geschwistern rate ich ihr, aufzulisten, wie viel Zeit sie selbst in der Woche für die Pflege des Vaters aufbringen kann und welche Aufgaben sie übernehmen möchte. Den Geschwistern sollte sie durchaus Vorschläge machen, wie sie sich einbringen können. Denn nur weil ein Kind allein vor Ort ist oder die anderen beruflich eingespannt sind, heißt das nicht, dass es alles allein machen muss.

Sandra Werner befolgt meinen Rat. Sie nimmt ihren Mut zusammen und lädt ihre Geschwister zu einem Familienrat ein, in dem sie besprechen, wie es mit dem Vater weitergehen soll. Schwester und Bruder kommen an einem Samstagnachmittag zu ihr. „Wir hätten uns fast wieder in die Wolle gekriegt, wie früher. Aber ich habe durchgeatmet, und mein Mann hat den beiden klar gemacht, dass Erwachsene nicht wie die Kinder zanken sollten“, berichtet Sandra von dem Treffen. „Dann habe ich ihnen in aller Ruhe meinen Alltag mit Papa geschildert, da waren sie doch beeindruckt.“ Dankbarkeit reicht aber nicht aus, um Sandra Werner zu entlasten. Die Aufgaben und die Verantwortung müssen verteilt werden, und auch das sagt sie offen. Der Bruder erklärt sich bereit, das Organisatorische zu übernehmen, den ganzen Papierkram von Steuererklärung über Schriftverkehr mit den Versicherungen bis zur Pflegekasse. Die Schwester hat vor dem Gespräch bereits mit ihrer eigenen Putzfrau gesprochen. Diese würde auf Minijob-Basis auch zweimal pro Woche im Haushalt des Vaters helfen. „Meine Schwester hat zudem versprochen, dass sie Papa künftig mindestens alle zwei Wochen besucht. Und ihre Kinder sind auch bereit, öfter zu ihm gehen. Mein Neffe will dem Opa sogar das Skypen beibringen.“ Sandra ist zufrieden mit dem Ergebnis.

Die nächste Hürde ist das Gespräch mit dem Vater: „Ich werde ihm offen sagen, dass ich es allein nicht mehr schaffe, meine Arbeit und zwei Haushalte unter einen Hut zu bringen. Er spürt ja, dass ich immer abgehetzt und oft gereizt bin.“ Das ist der richtige Weg, denn Probleme lassen sich nicht schweigend lösen. Und pflegende Kinder müssen sich trauen, den Eltern gegenüber Grenzen zu setzen. Aber es ist auch wichtig, immer im Gespräch zu bleiben. Ich rate Sandra Werner, den Familienrat alle drei Monate zu wiederholen und dann gemeinsam zu schauen, was gut gelaufen ist und was sich ändern soll. Schließlich wird die Pflege des Vaters mit hoher Wahrscheinlichkeit im Laufe der Zeit intensiver werden. Gemeinsam lässt sich diese Herausforderung besser bewältigen und ist auch eine Chance, als Familie zusammenzuwachsen.

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Danke! Das hat geklappt.