Ob jemand sonderbar ist oder nicht, das ist eine höchst subjektive Einschätzung. Fakt ist: Mit dem Alter lassen unsere Sinne nach: Wir hören und sehen schlechter, unser Gehirn und damit auch unsere Auffassungsgabe werden langsamer. Was unsere Eltern früher „mit links“ gemacht haben, dauert nun länger. Das nervt uns Kinder, aber oft auch die Betroffenen. Wer sich auf diese Veränderungen einstellt, hat es in der Regel leichter mit dem Älterwerden.
Sandra Schüller versteht die Welt nicht mehr. Nun, eigentlich ist es nicht die ganze Welt, sondern ihre Mutter. Dabei war die 86-Jährige doch bis vor einigen Monaten noch fit, managte ihren Haushalt, lud die Familie jeden Monat zum Sonntagsbrunch ein, übte mit dem 13-jährigen Enkel sogar regelmäßig Mathematik. Aber Helene Schüller hat sich verändert. „Sie ist stur, ihr ist alles zu viel. Sie hört nicht richtig zu und wird aggressiv, wenn ich ihr etwas sage“, erzählt Sandra Schüller. Sie ist ratlos und verunsichert, wie sie ihrer Mutter begegnen soll: „Sie lehnt jede Hilfe ab, wirft mir vor, ich würde sie kontrollieren wollen.“ Nun, mit der Kontrolle hat Helene Schüller gar nicht so unrecht: „Aber ich mache mir eben Sorgen um meine Mutter. Ich habe Angst, dass ihr etwas passiert oder sie gar stirbt“, schildert die Tochter mir ihre Gedanken.
Das ist das Grunddilemma zwischen Alt und Jung, irgendwann drehen sich die Positionen: Die Eltern spüren natürlich die Folgen des Alters am eigenen Körper. Aber sie wollen ihre Selbstständigkeit nicht aufgeben, ihr Leben selbstbestimmt führen. Wir Kinder müssen uns auf ein Leben ohne die Eltern einstellen, die Veränderungen begleiten, aber auch die Ohnmacht aushalten, dass die Eltern unsere Hilfe ablehnen oder wir sie vielleicht auch gar nicht leisten können bzw. wollen. Denn auch das ist das gute Recht der Kinder: Sie sind nicht für Mutter und Vater verantwortlich.
Doch um zu begreifen, warum wir uns im Laufe des Lebens verändern, was da mit uns passiert, schauen wir auf den Prozess des Älterwerdens. Der setzt quasi mit der Geburt ein, aber meistens spüren wir ab dem 30. Lebensjahr, dass der Körper altert: Wir bekommen die ersten grauen Haare und vielleicht auch Falten. Manche benötigen schon ab 40 eine Lesebrille, andere erst mit 50. Aber wir merken, dass wir mit Lichtveränderungen nicht mehr so gut klarkommen, uns etwa beim Autofahren im Dunkeln unsicher fühlen. Sandra Schüller hört aufmerksam zu. „Ja, da erkenne ich mich schon wieder“, sagt sie, „ich werde jetzt 53 und habe kürzlich meine erste Gleitsichtbrille bekommen. Das war eine große Umstellung.“
Mit 60 Jahren gehören wir zu den „jungen Alten“, mit 75 Jahren treten wir ins sogenannte „zweite Alter“ ein und ab 85 Jahren beginnt die dritte Phase, die Hochaltrigkeit. Wer Fotos seiner Eltern oder anderer Angehöriger aus diesen Phasen nebeneinanderlegt, kann den Veränderungsprozess dieser Jahre gut erkennen. Aber es geht ja nicht nur um Äußerlichkeiten wie Tränensäcke, Doppelkinn, dünne Haare oder wachsende Ohren. So wie der Körper an Straffheit verliert, ergeht es auch unseren Sinnen, Organen und dem Gehirn. Wir sehen und hören schlechter, sind weniger aufnahmefähig und langsamer im Kopf, die Knochen und Gelenke tun weh. Wenn wir uns nur leicht stoßen, bekommen wir Blutergüsse, weil die Gefäße verletzt werden. Unsere Haut wird dünner, ist trocken und reißt leichter ein. Verletzungen heilen nur schwer.
Auch unser Herz-Kreis-Lauf-System altert. Durch Gefäßablagerungen fließt das Blut schlechter, das Herz und die Kranzgefäße werden schlechter versorgt, das Herz pumpt langsamer. Die Gefahr von Bluthochdruck und Herzrhythmusstörungen und damit auch für Schlaganfall und Herzinfarkt steigt. Als die medizinische Versorgung noch nicht so gut war, starben die Menschen daran. Heute können wir Infarkte und Schlaganfälle überleben. Aber je älter wir werden, desto größer ist auch das Risiko, etwa nach einem schweren Schlaganfall ein Pflegefall zu werden.
„Kein Wunder, dass meine Mutter immer gesagt hat, dass Älterwerden nichts für Feiglinge ist“, stellt Sandra Schüller fest. „Aber dennoch hat sie sich ja tapfer gehalten und viel für ihre Gesundheit getan.“ Was das denn war, möchte ich wissen. „Sie ist gerne gelaufen, hatte ihre Gymnastikgruppe, ihren Literaturkreis. Sie hat toll für uns gekocht, ist mit mir gerne ins Theater gegangen“, berichtet die Tochter. „Sie wollte sich immer schick machen, war jede Woche beim Friseur.“ Mir fällt auf, dass Sandra Schüller diese wunderbaren Dinge, die ihrer Mutter nicht nur Freude gemacht, sondern auch durchaus ihrem Alterungsprozess entgegengewirkt haben, in der Vergangenheitsform aufzählt. „Wann hat sich das verändert?“, frage ich nach.
„In den letzten Monaten hat sie das Interesse verloren und immer öfter gesagt, dass sie keine Lust zu nichts mehr hat“, berichtet die Tochter nach kurzem Überlegen. Ob die Mutter regelmäßig zum Arzt geht, möchte ich nun wissen. „Ich weiß gar nicht, ihre Hausärztin ist vor zwei Jahren in Rente gegangen. Aber meine Mutter musste bis dahin auch keine Medikamente nehmen“, antwortet Sandra Schüller.
Das ist ein Punkt, an dem Mutter und Tochter ansetzen müssen. Denn eine recht plötzliche Wesensveränderung ist ein Warnsignal, eine beginnende Demenz aber auch eine Depression könnten die Ursache sein. „Aber wenn ich meiner Mutter sage, dass sie zum Arzt gehen muss, wird sie sich weigern“, fürchtet Sandra Schüller. Daher sollte sie sich auf das Gespräch gut vorbereiten, eine Strategie entwickeln. Dazu gehört, die Mutter nicht zu bevormunden („Du gehst jetzt endlich zum Arzt“), sondern die eigenen Gefühle zu schildern („Ich mache mir Sorgen um dich. Ich wünsche mir, dass wir dir einen neuen Hausarzt suchen und einen Termin vereinbaren.“)
Wichtig dabei: Erwarten Sie keine Wunder, sondern behalten Ruhe und Geduld. Bei einem medizinischen Notfall ist gewiss Eile gefordert, aber in den meisten anderen Fragen – nicht nur des Alters – trifft ein altes Sprichwort zu: Gut Ding will Weile haben.
Liebe Frau Niewohner,
ich hatte schon vor einiger Zeit ein Online-Seminar bei Ihnen belegt und anschließend auch Ihren Newsletter abonniert. Ich freue mich jedes Mal über Ihren Newsletter und die so informativen Beiträge, die mir sehr helfen in meiner Situation. Mein Vater war zwei Jahre im Heim (Parkinson) und ist im Alter von 86 Jahren vor 1 Monat verstorben. Ihr Seminar hat mich in vielem bestärkt und mir neue Impulse gegeben, um meinen Beruf, Ehemann, Sohn, Hobbys und Pflege irgendwie übereinander zu bringen. 🙂 Jetzt kümmere ich mich weiter um meine 86 Jahre alte Mutter und habe zusätzlich die Betreuung für meine Lieblingstante (88 Jahre) übernommen. Ihr Beitrag über Mutter und Tochter spricht mir aus der Seele, als wäre es meine Situation. Danke nochmals für Ihr tolles Coaching durch den Newsletter!!!
Herzliche Grüße und bitte bleiben auch Sie gesund und uns erhalten!
Rosi B.
Liebe Roswitha B.,
vielen lieben Dank für Ihre Rückmeldung. Es freut mich, dass mein Seminar und der Newsletter hilfreich sind. Ich wünscher Ihnne alles Gute und melden Sie sich, wenn Sie FRagen haben.