Auf den Punkt gebracht: Aus einer fordernden, nicht selbst gewählten Lebenssituation Dankbarkeit zu ziehen, sehen viele als hohe Kunst und vielleicht auch Augenwischerei an. Tatsächlich, das ist wissenschaftlich erwiesen, sind dankbare Menschen auch zufriedener. Optimisten haben es da von Natur aus leichter. Das Gute: Alle anderen können Dankbarkeit trainieren.

Von Anfang an: Gerda Wertheim hat Alzheimer und lebt im Pflegeheim. Ihre Tochter Petra ist weiterhin für sie da. Dabei sei die Mutter immer egoistisch gewesen, habe ihr Kind vernachlässigt. Dann war Gerda Wertheim psychisch krank, wurde tablettensüchtig, hatte Depressionen und jetzt die Demenz obendrauf. Ist Gerda Wertheim dankbar für all die Mühen ihrer Tochter? Nein, sie macht ihr sogar Vorwürfe, weil sie alles vergisst, was Petra für sie tut: die vielen Stunden, die sie ihr schenkt, die Spaziergänge, anstrengende Arztbesuche. Die Tochter ist unglücklich und unzufrieden. Wie und wozu soll sie da Dankbarkeit empfinden? Der erste Schritt, zu dem ich Petra rate: „Verlassen Sie endlich die Opferhaltung! Denken Sie darüber nach, warum Sie Ihre Mutter trotz allen aufgestauten Grolls pflegen. Weil ,man‘ das so macht oder weil Sie doch das Bedürfnis haben, für sie da zu sein?“ Ein Beispiel aus meiner Praxis: Eine Seminarteilnehmerin berichtete, dass sie sich bewusst entschieden hatte, mit ihrer Mutter in einem Haus zu leben und sie zu pflegen, weil sie ihre Mutter liebt. Die Erinnerung an diese Entscheidung hat sie in schwierigen Situationen getragen. Das ist eine Vorstufe der Dankbarkeit.Petra denkt intensiv über die Beweggründe nach, warum sie sich „das alles antut“. Da ist zwar dieses Pflichtgefühl, aber sie spürt in sich auch den Wunsch, der Mutter das zu geben, was sie von ihr als Kind nicht bekommen hat: Sicherheit, Verlässlichkeit, Urvertrauen. Dass die Mutter nicht gebührend dankbar dafür ist, schmerzt sie. Aber vielleicht sendet die demente Gerda Wertheim kleine Signale der Dankbarkeit aus, die Petra übersieht? Ein Lächeln, eine Umarmung, eine geteilte Erinnerung…

Zugegeben: Es ist anstrengend, im vordergründig Negativen auch das Positive zu sehen. Die Coronakrise führt es uns täglich vor Augen. Da war erst die Panik mit den absurden Hamsterkäufen von Klopapier und Nudeln. Gleichzeitig gab es das „Wir halten zusammen“ mit abendlichem Applaus von Balkonen und aus Fenstern für alle Helfenden. Das fanden erst alle toll, irgendwann nervte es. Als sich in den Geschäften wieder das Klopapier in Aufbauten stapelte, folgte die Maskenpflicht beim Einkaufen mit oft unschönen Auseinandersetzungen über das Abstandhalten. Auf der anderen Seite gibt es herzerwärmende Geschichten, wie kreativ Menschen sich trotz der erforderlichen sozialen Distanz nahekommen. Die strengen Auflagen haben uns sehr viele (Freizeit-)Möglichkeiten genommen, dafür haben wir andere entdeckt, für die wir vorher kaum Zeit hatten: Spazierengehen, Radfahren, in Ruhe ein Buch lesen. Mancher hat vielleicht neue Leidenschaften für sich entdeckt: nähen – nicht nur Masken, im Garten wurschteln, malen, Gedichte schreiben…

Was lernen wir daraus für unser Leben? Wenn ich mir einer schweren Situation immer wieder auch die vielleicht winzigen positiven Seiten vor Augen führen, trainiere ich meine innere Haltung und schaffe es allmählich, nicht ständig auf die negativen Auswirkungen fokussiert zu sein. Zurück zu Petra Wertheim. Vielleicht lernt sie es, auch selbst dankbar zu sein. In einem meiner Seminare beeindruckte eine Teilnehmerin mich mit dieser Einschätzung: „Es ist schlimm, dass mein Vater Demenz hat, aber ich bin froh, dass ich ihn noch habe und mich von ihm verabschieden kann.“ So weit ist Petra Wertheim (noch) nicht. Aber sie kann – wie jeder von uns – damit beginnen Dankbarkeit zu trainieren. Dazu schreibt sie an jedem Abend drei Dinge auf, für die sie an diesem Tag dankbar war. Anfangs sind das eher allgemeine Dinge: eine gute Nachricht aus der Tagesschau, schönes Wetter, die Gesundheit der Familie. Wer dran bleibt, wird von ganz allein detaillierter in seiner Dankbarkeit und richtet diese auch auf sich selbst. Vielleicht bin ich dankbar, dass meine Füße mich so weit tragen, dass mein Herz so tapfer schlägt, dass ich einen schönen Moment erleben durfte?

Diese ganze Übung nutzt übrigens vor allem uns selbst: Allein durch die Frage, wofür ich dankbar bin, kommt das Gehirn in Schwung und produziert die Stimmungsaufheller Dopamin und Serotonin. Kurz gesagt: Je dankbarer ich bin, desto besser bin ich drauf. Das überzeugt Petra Wertheim, sie legt sich einen Block und Bleistift auf den Nachttisch und führt Buch über ihre Dankbarkeit. An der Demenz der Mutter und der Sorge um sie ändert das nichts. Aber durch eine andere innere Haltung kann Petra Wertheim besser mit der belastenden Situation umgehen. Ein Beispiel: Es ist traurig, dass die Mutter vergessen hat, dass sie einen Enkel hat. Aber sie war aus dem Häuschen, dass ein so netter Junge eine alte Frau im Pflegeheim anruft. Und der Teenager, der vor allem auf Drängen seiner Mutter zum Telefon gegriffen hatte, war dann happy, der Oma eine Freude gemacht zu haben. Am Telefon schwärmt die alte Dame ihrer Tochter vor, dass sie einen tollen Sohn habe. In diesem Moment spürt Petra Wertheim, was es heißt, im Negativen etwas Positives zu sehen, dafür Dankbarkeit und Freude zu empfinden. Das ist doch ein schöner Anfang.

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