Wenn das letzte Elternteil stirbt oder ins Pflegeheim ziehen, müssen wir Angehörige uns mit dem Nachlass beschäftigen. Dabei zu entdecken, dass Vater und Mutter ein uns unbekanntes Leben, private Eigenheiten oder gar „Leichen im Keller“ hatten, ist auch für erwachsene Kinder oft peinlich oder gar erschreckend.

Sandra Silvers (alle Namen in diesem Text sind geändert) ist mit 19 Jahren von zu Hause ausgezogen. 40 Jahre später kehrt sie zurück, um aufzuräumen. Der Stiefvater ist vor etlichen Jahren gestorben. Die Mutter Mia Verfürth hatte sich in ihrer Trauer in dem Einfamilienhaus eingeigelt. Wenn die 500 Kilometer entfernt lebende Tochter zu Besuch kam, hat sie sie nur widerwillig reingelassen. Denn in ihrem Reich wurde es zusehends chaotischer und unaufgeräumter. Doch dann ging es ganz schnell. Die 83-Jährige war völlig hilflos und desorientiert. Am Telefon konnte die Tochter sie überreden, den Hausnotrufknopf zu drücken. Die Seniorin kam ins Krankenhaus. Dort diagnostizierten die Ärzte, dass sie nicht nur körperlich, sondern auch geistig in einem schlechten Zustand war. Eine fortgeschrittene Demenz machte es unmöglich, dass Mia Verfürth weiter allein in ihrem großen Haus lebt. Sie kam vom Krankenhaus direkt in ein Pflegeheim.

„Für mich und meinen Mann war es wie ein Alptraum, als wir nach dem Zusammenbruch zu ihr ins Krankenhaus gingen“, blickt Sandra Silvers zurück. „Ich hatte schon länger bemerkt, dass meine Mutter immer vergesslicher wurde und auch ihre Hausärztin darauf angesprochen. Aber sie teilte meine Befürchtungen nicht.“ Nun war die alte Frau so verwirrt, dass sie sogar mit der Haarbürste telefonieren wollte. Doch nicht nur der erbärmliche Zustand der Mutter, sondern auch der des Elternhauses schockierte die Tochter. Und es kam die böse Ahnung auf, dass es Monate dauern würde, das Chaos zu sichten und zu richten.

„Zum Glück sind mein Mann und ich freiberuflich tätig und können unsere Zeit einteilen. Ansonsten wäre das nicht zu schaffen“, erzählt die Tochter. Einfach einen Entrümpler zu bestellen, kam nicht in Frage. „Ich wusste, dass meine Eltern zu Hause einige Wertsachen versteckt hatten. Und ich fürchtete, dass da auch unangenehme Dinge auftauchen würde.“

Die kostbaren südafrikanischen Goldmünzen, Geldscheine und Familienschmuck aus dem Erbe der Großeltern waren die erfreulichen Fundstücke. Doch vorher mussten die Eheleute verdorbene Lebensmittel und säckeweise Altkleider entsorgen, Stapel von Büchern durchsehen, zugemüllte Schubladen aufräumen. „Es war zum Teil wirklich ekelhaft“, gesteht Sandra Silvers. „Aber vor allem habe ich mich geschämt, weil meine Mutter alles so vernachlässigt hatte, aber auch, dass ich das nicht habe verhindern können.“ Dabei hatte die Tochter all die Jahre zuvor bei ihren Besuchen immer wieder versucht, die alte Dame zum Aufräumen zu bewegen. Vergebens.

Doch beim Aufräumen entdeckte Sandras Mann noch Verwunderlicheres. So lagen unter dem Ehebett, verborgen zwischen allerlei anderen Sachen, in einer Schachtel auch zwei Pistolen. „Mein Stiefvater war ein zutiefst misstrauischer und argwöhnischer Mensch. Aber dass er und meine Mutter auf Waffen geschlafen haben, ist doch entsetzlich“, erzählt mir die Tochter in einem Beratungsgespräch. Die Ehe der Eltern sei im Alter zunehmend schwierig, der Umgangston immer rauer geworden. „Ich bekomme den Gedanken nicht aus dem Kopf, was sie sich gegenseitig mit den Waffen hätten antun können.“ Die Tagebücher der Mutter, die sie ebenfalls gefunden hat, könnten vielleicht Aufschluss geben. „Mein Mann hat sie durchgeblättert und es war grauenhaft. Aber ich will das alles gar nicht wissen. Wie soll ich meiner Mutter denn dann noch in die Augen schauen?“

Doch nun fragt sich Sandra Silvers, was sie mit den Aufzeichnungen ihrer Mutter anstellen soll. Aufheben und irgendwann lesen, wenn die Zeit dafür gekommen ist? Die Tagebücher wegwerfen?

Gemeinsam sprechen wir über Sandra Silvers Situation. Solche Funde verändern das Bild auf die eigenen Eltern sehr, das steht fest. Sie sind, wie in diesem Fall, verstörend. Sandra Silvers Mutter lebt noch. Ob es angesichts ihrer Demenz überhaupt möglich ist, mit ihr über die Entdeckungen zu sprechen, ist fraglich. Und oft blocken auch Eltern, die noch geistig fit sind, Fragen ihrer Kinder ab. Grundsätzlich ist auch zu bedenken, dass jeder Mensch ein Recht auf seine Geheimnisse hat.

Die Frage, ob und wann Sandra Silvers die Tagebücher lesen wird, muss sie für sich beantworten. Aber sie sollte sich vorher selbst fragen, ob sie in den Notizen der Mutter Antworten findet, die für sie selbst und ihr eigenes Wohlbefinden wichtig sind. „Wenn Sie eine Erklärung brauchen, warum Ihre Eltern sich so verhalten haben und hoffen zu verstehen, warum Sie selbst so sind, wie Sie sind, dann kann es aufschlussreich, die Bücher zu lesen“, erkläre ich. Die Erkenntnisse können auch heilsam sein. „Aber es kann auch passieren, dass Sie zutiefst erschütternde Dinge erfahren. Dann ist es wichtig, dass Sie sich frühzeitig Unterstützung und wenn erforderlich auch therapeutische Hilfe suchen.“

Sandra Silvers beschließt, die Tagebücher in eine Kiste zu packen und wegzulegen: „Ich möchte sie überhaupt nicht lesen. Vielleicht ändert sich das, wenn meine Mutter nicht mehr lebt. Aber das muss ich ja zu diesem Zeitpunkt noch nicht entscheiden.“ Erst einmal steht das weitere Aufräumen und Sortieren im Vordergrund.

Dabei macht Sandra Silvers einen weiteren Fund. Sie entdeckt den Kaufvertrag vom Haus ihrer Großeltern. „Es wurde früher in der Familie hinter vorgehaltener Hand gemunkelt, dass meine Großeltern das Haus in der NS-Zeit für wenig Geld vom jüdischen Vorbesitzer gekauft hatten“, berichtet sie, „aber nun die Verträge mit Hakenkreuz und ‚Heil Hitler‘ über der Unterschrift zu sehen, hat mich dennoch mitgenommen.“ Dabei sei die Oma für sie der beste und liebste Mensch gewesen, ihr Haus war für die junge Sandra immer ein sicherer Hafen.

Dass die Enkelin nun irritiert ist, kann ich nachvollziehen. Wir wollen die Eltern und Großeltern als gute Menschen sehen. Das Wissen, dass sie unmoralisch gehandelt haben, verunsichert uns. Die Nachfahren treten das Erbe der Vergangenheit an. „Als Enkelkind trage ich keine Schuld. Aber wenn ich mich dennoch verantwortlich fühle, kann ich schauen, ob ich das heute irgendwie ausgleichen kann“, rate ich. Das kann etwa durch eine Spende an eine wohltätige Organisation geschehen.

Aber als Nachfahren haben wir auch das Recht, uns selbst zu schützen. Wir müssen nicht alles über unsere Eltern und deren Eltern wissen.

Übrigens habe ich selbst etwas gelernt, als ich mich intensiv mit den Themen Aufräumen und Familiengeheimnisse beschäftigt habe: Ich möchte meinen Nachfahren dieses Dilemma ersparen. Darum ist es wichtig, rechtzeitig seine Dinge zu sortieren und auch frühzeitig auszusortieren. Wie das geht, das lesen Sie im nächsten Newsletter.

 

 

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