Die steigende Hilfe- und Pflegebedürftigkeit von Eltern stellt Geschwisterbeziehungen vor neue Herausforderungen. Darüber offen zu sprechen, unterschiedliche Sichtweisen zu akzeptieren und gemeinsam einen Weg zu finden, kann helfen, Ärger zu vermeiden.

Irgendwann ist er da, der Tag, an dem sich die Rollen tauschen: Da machen wir erwachsenen Kinder uns auf einmal Sorgen um unsere alternden Eltern. Jochen Berger (alle Name von der Redaktion geändert) erinnert sich noch gut an den Schrecken, als der damals 79-jährige Vater einen Unfall gebaut hatte, weil er hinter dem Steuer einen Aussetzer hatte. Die Mutter griff beherzt ins Steuer und lenkte den Wagen noch an den Straßenrand. Erst wollten die Eltern auch nach dem Unfall weitermachen, wie bisher. Aber nach einem weiteren schweren Aussetzer am Steuer gab der Vater endlich das Fahren auf.

 „Ab sofort habe ich mit meiner Mutter jeden Freitag den wöchentlichen Großeinkauf erledigt“, erzählt Jochen Berger. Denn die Schwester wohnte zwar nur 30 Kilometer, durch den täglichen Stau auf der Autobahn aber eben doch anderthalb Stunden Fahrtzeit entfernt. „Aber ich mache es auch gern“, sagt der Sohn. Zumal sich ein schönes neues Ritual entwickelt hat: Immer freitags trifft er seine Eltern erst im Café, wo sie mit dem Taxi hinfahren. Dann wird der Vater daheim abgesetzt, Sohn und Mutter fahren weiter zum Supermarkt. Seine Frau versteht sich mit den Eltern ebenfalls gut, übernimmt andere Dienste und macht Extra-Besorgungen.

„Ich habe Mutter jahrelang durch die Gegend kutschiert, weil sie keinen Führerschein hatte und Vater im Büro saß“, meint seine sechs Jahre ältere Schwester Doris etwas schnippisch, als Jochen Berger ihr am Telefon davon erzählt und andeutet, dass die Eltern künftig immer mehr Hilfe bräuchten. „Und wenn ich nicht in eine andere Stadt gezogen wäre, wäre ich ja wohl weiterhin täglich gebucht. Jetzt weißt du auch mal, wie das ist. Mach mir bloß keine Vorwürfe.“ Der Bruder ist mehr als erstaunt über die heftige Reaktion der Schwester: „Ich dachte, du warst immer gern mit Mama unterwegs. Und manchmal haben wir uns doch zu dritt im Café getroffen. War das nicht immer nett?“ Die Schwester schnaubt hörbar: „Wenn du das so siehst. Ich bin dem erst entkommen, als ich weggezogen bin.“

Jochen Berger will es genauer wissen: „Aber warum hast du denn nie was gesagt? Wenn ich was anderes vorhabe, gebe ich Mama Bescheid und es ist nie ein Problem.“ Nun platzt Doris endgültig der Kragen: „Du bist ja auch ihr Liebling. Sie schwärmt mir vor, dass du deine kostbare Zeit opferst, obwohl du so viel zu tun hast. Dass wir beide Lehrer sind und ähnlich viel arbeiten müssen, spielt keine Rolle. Ich habe nie ein Dankeschön bekommen. Ich bin ja auch nicht der tolle Jochen.“ Mit dem wütenden Ausruf, „Unsere Mutter ist nicht so, wie du denkst“, legt die Schwester auf.

Diese unerwartete Auseinandersetzung muss der jüngere Bruder erstmal verarbeiten. Eigentlich wollte er mit Doris besprechen, wie sie sich beide künftig die Verantwortung etwas aufteilen könnten. Und wie sie gemeinsam die Eltern vielleicht davon überzeugen könnten, das große Haus aufzugeben und in eine Seniorenwohnung mit verschiedenen wählbaren Betreuungsangeboten durch das benachbarte Altenheim zu ziehen. Denn vor allem die Mutter ist stur. Obwohl sie ohne Rollator keinen Schritt mehr machen kann, lehnt sie jede Veränderung ab. Aber dass sie seiner Schwester das Leben derart schwer gemacht haben soll, kann Jochen gar nicht nachvollziehen.

Und eben das ist das Problem zwischen Geschwistern: Jeder hat seine eigene Beziehung zu den Eltern, seine eigenen Erfahrungen, Erinnerungen, Gefühle und auch Verletzungen. Doris ist verbittert. Sie fühlte sich von der Mutter immer drangsaliert, unter Druck gesetzt, glaubte, ihre Erwartungen nicht erfüllen zu können. Für Jochen war die Mutter einfach die Mama, die für den Haushalt sorgte und lecker kochte, sogar dem erwachsenen Sohn noch die Hemden bügelte. Der er erzählen konnte, was in der Schule passiert ist – früher als Kind und als Lehrer. Die ihn auch mal ausschimpfte, wenn er was angestellt hatte. „Sie war vor allem immer da. Das fand ich schön und hat mir genügt“, sagt er.

Aber auch die Gefühle der Geschwister zueinander sind oft sehr unterschiedlich. Doris war sechs Jahre alt, als ihr kleiner Bruder geboren wurde. Dass da bei einem Kind Eifersucht und Neid aufkommen, ist eigentlich normal. Und leider können wir auch als Jugendliche und Erwachsene diese Gefühle selten ganz abschütteln. Dass seine Schwester ihm jetzt vorwirft, Mamas Liebling zu sein, verletzt Jochen Berger: „Ich habe es nie so empfunden. Denn wenn ich meine Mutter nach Doris frage, erzählt sie auch viel von ihr und ist stolz auf sie.“ Was ihm aber tatsächlich erst jetzt auffällt, wo er sich mit dem Thema beschäftigt: „In unserer Familie wurde nie wirklich gelobt, gute Noten waren selbstverständlich. Unsere Eltern haben einfach erwartet, dass wir unseren Weg gehen und ihnen keine großen Sorgen machen.“

Doch trotz allem, was in der Kindheit passiert ist: Es bleibt dabei, dass die Eltern älter und hilfebedürftiger werden. Psychologin Prof. Dr. Katja Werheid rät in ihrem Buch „Nicht mehr wie immer“: „Man muss nicht jede Leiche aus dem Keller zerren!“ Neidvorwürfe, wie „Mutter hat dich immer vorgezogen“, gingen an die falsche Adresse. Denn was in der Kindheit passiert ist, liegt in der Verantwortung der Eltern. Und selbst wenn Ungerechtigkeit geherrscht habe, gibt die Autorin zu bedenken: „Sollen Bruder oder Schwester aus Schuldgefühlen heraus Jahrzehnte später die Fehler der Eltern wiedergutmachen, indem sie sich stärker für die Betreuung einsetzen?“

Die Antwort auf diese Frage kann eigentlich nur Nein lauten. Wenn Geschwister dennoch den Wunsch haben, das Vergangene untereinander zu klären, sollten sie Vorwürfe vermeiden. Statt Jochen zu unterstellen, dass er Mamas Liebling sei, könnte Doris besser aus ihrer Sicht in der Vergangenheit sprechen: „Ich hatte immer den Eindruck, dass ich es unserer Mutter nicht recht machen konnte.“ Auf dieser Basis können die Geschwister hoffentlich ein ruhiges und neutrales Gespräch führen und dabei die Sichtweise des anderen zur Kenntnis, aber nicht persönlich nehmen. Denn Streit und Vorwürfe bringen niemanden weiter, wenn es darum geht, gemeinsam die künftige Pflege der Eltern zu planen und unter sich aufzuteilen.

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