Die Frage, ob ein Mensch Alzheimer oder eine andere Form der Demenz hat, muss medizinisch geklärt werden. Fest steht: Bei diesen Warnsignalen ist ein Besuch in der Arztpraxis unaufschiebbar.

Mit Gertrud Baier stimmt etwas nicht, das ist nicht zu übersehen. Dass ihre Mutter in den vergangenen Jahren etwas „tüddelig“ und insgesamt langsamer geworden ist, hat die Tochter als das übliche Älterwerden eingestuft. Aber seit einigen Wochen reicht es nicht mehr, wenn Sabine Stein ihre Mutter am Abend vor dem Friseurtermin nochmal anruft. Sie muss die 86-Jährige abholen oder ihr zumindest das Taxi bestellen und direkt vorher nochmal Bescheid geben. Sonst öffnet sie dem Fahrer im Nachthemd die Tür. Letztens wollte Enkelin Lena die Tour übernehmen, und die Oma wunderte sich, dass eine fremde junge Frau bei ihr anklingelte. Als Lena sie entsetzt aufklärte, war Gertrud Baier sehr niedergeschlagen. „Ich glaube, ich habe Alzheimer“, sagte sie traurig zu ihrer Tochter.

Und das ist tatsächlich gut möglich, denn: Je älter wir werden, desto wahrscheinlicher ist es, dass wir dement werden. Und wer weiblich ist, hat ein noch größeres Risiko. Neun Prozent der Frauen ab 75 bis 79 Jahren sind betroffen, bei den Männern sind es sieben Prozent. In der Altersgruppe 85 bis 89 Jahre ist bereits ein Viertel der Frauen dement, 16 Prozent der Männer. Ab 90 wird es noch kritischer, dann leiden fast 45 Prozent der Seniorinnen unter Demenz, immerhin auch fast ein Drittel der alten Herren. Die schlechte Nachricht: Demenz ist nicht heilbar, sondern der Prozess lässt sich je nach Ursache allenfalls verlangsamen.

Ob Gertrud Baier Alzheimer hat, wird erst eine medizinische Untersuchung zeigen. Unter den Begriff Demenz fallen 50 Krankheiten, die sich nach Ursachen, Symptomen und Verlauf unterscheiden. Tatsächlich ist Morbus Alzheimer mit zwei Dritteln der Fälle die häufigste Form der Demenz, Eiweißablagerungen im Gehirn sind die Ursache. Warum diese bei manchen Menschen entstehen und bei anderen nicht, ist noch nicht endgültig erforscht. Studien haben aber belegt: Wer sich sein Leben lang ausgewogen ernährt, viel bewegt, soziale Kontakte hat und sein Gehirn fit hält, hat insgesamt und auch mit Blick auf eine drohende Demenz bessere Aussichten auf ein gesundes Alter.

Das bedeutet im Umkehrschluss aber nicht, dass Gertrud Baier an ihrer Vergesslichkeit selbst Schuld ist. „Mama war für ihre Generation sehr aktiv“, beschreibt Sabine Stein ihre Mutter. Sie habe Tai-Chi gemacht und jeden Morgen zu Hause die „Sieben Tibeter“, eine Abfolge von Gymnastikübungen. Sie hätte auch nach dem Tod des Vaters ihre Freundschaften gepflegt, sei mit dem Kegelclub unterwegs gewesen. „Und sie hat immer auf ihre Figur geachtet und sich allein deshalb schon gesund ernährt“, berichtet die Tochter stolz. Aber Frauen haben von Natur aus einen anderen Stoffwechsel und Hormonhaushalt als Männer und allein deshalb ein höheres Risiko, an Alzheimer zu erkranken. Die Ursachenforschung dazu läuft noch.

Auch Sabine Steins Großmutter war im hohen Alter dement geworden. „Ob das wohl erblich ist und ich eines Tages auch ganz gewiss Alzheimer bekomme?“, fragt sie besorgt. Das genetisch bedingte Risiko liegt jedoch nur bei einem Prozent, und betroffen davon sind Familien, in denen Alzheimer bereits im Alter zwischen 30 und 65 Jahren auftritt.

Nach gründlicher körperlicher und neurologische Untersuchung haben Mutter und Tochter nach einigen Wochen Gewissheit: Gertrud Baier hat Alzheimer. Aber auch wenn eine andere Form der Demenz festgestellt worden wäre, fast alle Formen dieser Erkrankung bewirken einen Abbau der geistigen Fähigkeiten, die Betroffenen verlieren zunehmend ihre Sprache und Denkfähigkeit, auch die Motorik lässt nach. Ihr Sozialverhalten ändert sich, sie ziehen sich zurück. Im Endstadium der Krankheit sind die Patienten bettlägerig, oft sind Infektionen und Lungenentzündung dann die Todesursache.

Gertrud Baier befindet sich im frühen mittleren Stadium der Krankheit. Noch ist vor allem ihr Kurzzeitgedächtnis eingeschränkt, aber es kommt immer häufiger vor, dass sie bekannte Gesichter nicht erkennt. Im weiteren Krankheitsverlauf wird auch ihr Langzeitgedächtnis aus den Fugen geraten. Es kann sein, dass sie wichtige Ereignisse in ihrem eigenen Leben vergisst, etwa den Tod des eigenen Ehemannes. Bald wird sie nicht mehr allein leben können, weil es ihr zunehmend schwer fallen wird, sich auch in der eigenen Wohnung zu orientieren, ihren Alltag zu bewältigen.

Mit Grauen erinnert sich Sabine Stein an das Schicksal ihrer Oma. Die Mutter hatte sie über Jahre gepflegt, war oft am Rande ihrer Kräfte. „Wenn mir das passiert, steck mich ins Pflegeheim und vergiss mich“, hatte Gertrud Baier ihrer Tochter gesagt. Ihrer Tochter hat sie auch bereits frühzeitig eine Vorsorgevollmacht erteilt. Sabine Stein will ihre Mutter natürlich nicht „abschieben und vergessen“. Sie weiß aber auch, dass sie ihre Mutter nicht rund um die Uhr zu Hause pflegen kann und will.

Sabine Stein wendet sich an die Pflegeberatung in ihrer Stadt und erfährt, dass neben einem Pflegeheim auch eine sogenannte Demenz-WG eine Option für die Mutter wäre. Denn körperlich ist Gertrud Baier noch fit, sie wird vermutlich einige Jahre mit der Krankheit weiterleben. In der Wohngemeinschaft leben die Demenz-Patienten zwar betreut, aber noch so weit wie möglich selbstständig. Sie kochen zum Beispiel gemeinsam, können im Garten mitarbeiten, haben gemeinsame Gruppenangebote. Wenn sie ihre Ruhe brauchen, ziehen sie sich in ihr eigenes Zimmer zurück. Allerdings: Wenn die Bewohner schwer pflegebedürftig werden, ist ein Umzug in ein Pflegeheim erforderlich.

Die Familie entscheidet sich für diese Option, Gertrud Baier steht in mehreren Wohngruppen auf der Warteliste. Denn die Plätze sind rar. Kurzfristiger bekommt sie einen Platz in der ambulanten Tagespflege. An drei Tagen pro Woche wird sie abgeholt, verlebt einige Stunden in Gemeinschaft mit anderen Senioren. Sabine Stein findet den Gedanken, dass ihre Mutter in einer Art „Kindergarten für Alte“ betreut wird, zwar mehr als befremdlich. Aber der 86-Jährigen gefällt es, sie mag die Bastelrunden und Quizspiele. Vor allem tut ihr die Gesellschaft gut, sie kümmert sich teilweise um die Senioren, die hilfebedürftiger sind.

Als Gertrud Baier nach einem guten Jahr die Zusage für einen Platz in der WG bekommt, ist es allerhöchste Zeit. Denn es ist nun auch schon mal vorgekommen, dass sie die Wohnung verlassen hatte und nicht mehr wusste, wo sie hin wollte. Die aufmerksamen Nachbarn im Haus hatten sie wieder „eingefangen“. Sabine Stein ist froh, dass ihr diese Sorge nun genommen ist.

Was ihr und der Familie nicht erspart bleibt: Die Veränderungen der Mutter, das Schwinden ihrer Fähigkeiten mitzuerleben. Aber die Tochter will sich auch darauf vorbereiten. „Bei der Demenz meiner Oma habe ich mitbekommen, dass nicht alles schrecklich ist. Es gibt Momente der Nähe, wir haben auch damals über einige Situationen gelacht“, erinnert sie sich: „Das hat einfach gutgetan.“

Zunächst einmal hat sie sich vorgenommen, mit ihrer Mutter alle alten Fotoalben und -kisten zu durchstöbern. Sie will sie ermuntern, über „früher“ zu sprechen. „Wir haben zwar keine großen Familiengeheimnisse“, sagt sie, „aber ich hatte in meiner Jugend nicht immer die Geduld und später nicht die Zeit, mir das anzuhören. Das holen wir jetzt nach.“

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