Das Leben besteht aus Hochs und Tiefs, jeder hat mal einen Durchhänger. Aber wenn der Mensch nur noch traurig ist und sogar den Tod herbeisehnt, müssen die Alarmglocken bei den Angehörigen schrillen. Es könnte eine Depression vorliegen, und das muss ein Arzt klären.

Gerald Braun war schon immer ein ruhiger, nachdenklicher Mensch, der in Gesellschaft lieber zuhörte, als „sinnloses Zeug zu brabbeln“, wie er es selbst ausdrückte. „Aber zu zweit konnten wir uns immer gut unterhalten“, erzählt seine Tochter Vera, „vor allem nach dem Tod meiner Mutter sind wir zusammengewachsen.“ Gemeinsam hätten sie die schwere Zeit durchgestanden, sich gemeinsam erinnert, aber auch neue Interessen entwickelt: „Sehr spät ist mein Vater tatsächlich zu meinem Freund geworden, mit dem ich diskutieren, streiten und auch viel lachen konnte.“

Doch in den vergangenen Monaten hat der 83-Jährige sich spürbar verändert und immer mehr zurückgezogen. „Er hat keine Lust mehr auf unsere Sonntagsunternehmungen, dabei waren uns der Spaziergang und der anschließende Café-Besuch immer heilig“, wundert sich die Tochter. Seine geliebte Tageszeitung wollte Gerald Braun schon kündigen, angeblich weil, da nichts mehr drin stünde. „Aber wenn ich ihn gezielt auf einen Artikel zu einem Thema anspreche, das ihn früher immer interessiert hat, hat er es gar nicht gelesen“, ist Vera Braun aufgefallen.

Anfangs hat die Tochter das Verhalten des Vaters als Durchhänger interpretiert. „Er hatte auch früher mal solche Phasen der Verstimmung, und die schlimmen Nachrichten aus aller Welt können einen ja auch fertig machen“, sagt sie. Aber seit einigen Wochen spricht Gerald Braun darüber, dass er am liebsten „ schnell abkratzen“ will. Anfangs hat er die besorgten Reaktionen seiner Tochter noch beschwichtigt, ihr den Arm gedrückt, wenn sie sagte: „Papa, ich brauche dich doch!“ Aber mittlerweile interessieren ihn auch ihre Sorgen nicht mehr.

Vera Braun tut das einzig richtige, sie geht mit ihrem Vater zum Hausarzt. Der will zwar erst nicht, aber mit dem Hinweis auf den längst überfälligen Check-up kann sie ihn doch überreden. Der Arzt kann bei der Untersuchung auch feststellen, ob Gerald Brauns Stimmungstief eine körperliche Ursache hat oder ob eine Depression der Auslöser ist. Diese Befürchtung hat die Tochter dem Vater gegenüber bereits geäußert. Aber von diesem „Psychokram“ wollte der alte Mann nichts hören.

Der Arzt stellt seinen Patienten gründlich „auf den Kopf“. Die Blutwerte sind gut, auch die anderen Untersuchungsergebnisse sind unauffällig. Nun folgt die Überweisung zu einem Neurologen. Antriebslosigkeit und Konzentrationsschwierigkeiten können schließlich auch Anzeichen für eine Demenz sein. Der Arzt führt entsprechende Tests durch, die ebenfalls ohne Ergebnis sind. Gerald Braun ist ein wenig erleichtert: „Ich dachte, ich habe Alzheimer, weil ich so tüddelig geworden bin“, gesteht er seiner Tochter später.

Bei einem weiteren Test geht es um die Gefühlslage des 83-Jährigen. Wie zufrieden ist er noch mit seinem Leben? Hat er das Interesse an vielen Dingen verloren, die ihm früher wichtig waren? Fühlt er sich leer und nutzlos? Hat er schon einmal daran gedacht, sich das Leben zu nehmen? Die Diagnose ist schließlich klar, Gerald Braun leidet an einer Depression. „Ich bin doch viel zu alt für sowas“, wehrt er ab, „sowas bekommen nur Leute, denen es zu gut geht.“

Aber eine Depression ist weder „Psychokram“ noch Einbildung, sondern eine schwere Krankheit, die behandelt werden muss – unabhängig vom Alter. Denn 80 Prozent der Erkrankten empfinden ihr Leben als so aussichtslos, dass sie an Suizid denken. Etwa zwei Prozent nehmen sich das Leben. Vor allem bei Männern, die unter einer Altersdepression leiden, steigt das Suizidrisiko. Die weit verbreitete Vermutung, dass Menschen, die offen über ihre Todessehnsucht sprechen, sich ohnehin nichts antun werden, ist falsch. Vielmehr müssen diese Äußerungen als Hilferuf verstanden werden: Es geht mir so schlecht, dass ich diese Lebenssituation nicht mehr ertrage und beenden will.

Der Neurologe empfiehlt Gerald Braun zunächst eine medikamentöse Therapie. Da der 83-jährige auch andere Medikamente einnehmen muss, ist eine Absprache mit dem Hausarzt erforderlich, um Wechselwirkungen zu vermeiden. Darüber hinaus legt der Neurologe auch eine Psychotherapie nahe. Gerald Braun lehnt das ab, er will keinen „Seelenklempner“. „Ich bin immer noch mit allem selbst fertig geworden“, murrt er. Aber seine Tochter will auch da nicht locker lassen. Ohnehin dauert es mehrere Monate, um einen Termin bei einer Therapeutin oder einem Therapeuten zu bekommen. „Wenn ich die vergangenen Jahrzehnte betrachte, hätte mein Vater schon längst eine Therapie machen sollen, er hatte immer mal schwermütige Phasen“, stellt Vera Braun fest.

Ob ihr Vater sich dieser Herausforderung stellen wird, bleibt abzuwarten. Die Medikamente bringen nach sechs Wochen jedoch eine spürbare Verbesserung, auch wenn Gerald Braun über Nebenwirkungen wie Müdigkeit klagt. „Aber er redet jetzt wieder mehr mit mir“, freut sich Vera Braun. Und zu den Spaziergängen am Sonntag lässt er sich auch wieder abholen. Wichtige Schritte auf dem Weg zurück ins Leben.

Sie stellen bei Angehörigen oder auch sich selbst Anzeichen einer Depression oder Suizidgedanken fest? Dann nehmen Sie frühzeitig professionelle Hilfe in Anspruch. In akuten Krisensituationen ist die Telefonseelsorge erreichbar. Unter 0800/1110111 und 0800/1110222 haben an sieben Tagen die Woche rund um die Uhr ausgebildete Ehrenamtliche ein offenes Ohr für die Anrufenden. Das Angebot ist kostenlos und anonym. Auch eine Online-Beratung ist möglich: www.telefonseelsorge.de

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