Eins vorweg: Die Pflege eines dementen Angehörigen in professionelle Hände zu geben, ist kein Verrat. Meistens liegt vor dieser Entscheidung ein langer Leidensweg, und zwar für alle Beteiligten. Mit der neuen Situation umzugehen, ist dennoch schwer. Dabei hilft die Akzeptanz. Diese ist übrigens in vielen ausweglos erscheinenden Lebenslagen eine gute Begleiterin.

Franz Erlemann lebt seit acht Monaten in einer Wohngemeinschaft für Demenzkranke. Die Pflegekräfte versichern seiner Tochter, dass der 83-Jährige sich wohlfühlen und gut in die Gemeinschaft einbringen würde. Aber immer, wenn Katja Faber ihren Vater besucht, fragt er, ob er sie jetzt nach Hause bringen darf. Die Mutter würde doch auf sie beide warten. Frau Erlemann ist vor zehn Jahren gestorben, und das Elternhaus, in dem der Vater bis zu seinem Umzug ins Heim lebte, längst verkauft. Schließlich muss die Pflege finanziert werden. „Ich fühle mich immer schlecht, wenn er wieder davon anfängt. Ich hätte ihm das nicht antun dürfen“, sagt Katja Faber, als sie zu mir in die Beratung kommt.

Negative Gedanken und ein schlechtes Gewissen – das haben viele pflegende Angehörige. Kein Wunder, schließlich stecken sie in einer ausweglos erscheinenden Situation. Der Gesundheitszustand gerade älterer Pflegebedürftige wird sich nicht verbessern, sondern verschlechtern. Am Ende steht der Tod. Dass Angehörige da verzweifeln, ist normal. Wer sich in dieser Krise aber der Ohnmacht hingibt, schadet sich am Ende selbst.
In unserem Gespräch erzählt Katja Faber von den Jahren vor dem Umzug ins Heim. Wie der Vater mit der zunehmenden Demenz hilfloser und auch zur Gefahr für sich und andere wurde. Seine Wut über seine Vergesslichkeit, die aggressiven Ausfälle gegenüber der Tochter. „Anfangs hat meine Tante noch geholfen,  aber die hat es dann körperlich und auch psychisch nicht mehr geschafft“, berichtet Katja Faber. Weil sie ihren Vater nicht allein lassen wollte, hat sie oft bei ihm übernachtet. „Aber ich musste ja morgens zur Arbeit, und dann hat er immer öfter Unsinn gemacht, ist allein auf die Straße gelaufen und hat nicht zurückgefunden.“ Der Versuch mit einer osteuropäischen Pflegerin ist misslungen: „Vielleicht hätten wir falsche Erwartungen, aber das haben wir dann aufgegeben.“

Der freie Platz in der neuen Demenz-Wohngemeinschaft erschien damals als die Lösung. „Obwohl ich auch damit nie glücklich war. Warum kann ich nicht einfach meinen alten Papa wiederhaben?“, fragt Katja Faber. „Weil Demenz nicht heilbar ist“, sage ich und rate ihr: „Wenn Sie sich bewusst machen und einsehen, dass die Krankheit Ihren Vater und damit nicht nur sein, sondern auch Ihr Leben verändert, wird es Ihnen besser gehen.“ Nun ist es einfacher gesagt, als getan, eine so schwierige Situation anzunehmen und zu akzeptieren. Aber, das macht Hoffnung: Die Fähigkeit der Akzeptanz lässt sich trainieren. Und wer sich das klar macht, wird an einer belastenden, aber unabänderlichen Situation nicht zerbrechen.
Ich bitte Katja Faber, sich folgende Fragen zu beantworten: Gäbe es eine Alternative zur Demenz-WG? „Ich habe natürlich überlegt, ob ich es irgendwie bewerkstelligen kann, selbst meinen Vater zu pflegen. Aber dazu müsste ich uns erst eine gemeinsame, seniorengerechte Wohnung suchen. Und dann stellt sich ja immer noch die Frage der Betreuung. Ich müsste meinen Beruf aufgeben.“ Ich hake nach, ob Katja Faber wirklich bereit wäre, dieses große Opfer zu bringen. „Mein Gewissen sagt mir, dass ich es tun müsste: Mein Papa hat doch auch immer alles für mich getan. Aber eigentlich will ich es nicht. Ich würde alles aufgeben, was ich mir beruflich und privat aufgebaut habe. Und was mache ich, wenn mein Vater gestorben ist?“ Katja Faber steckt in einer psychischen Zwickmühle: Ihr Verstand sagt ihr bereits, dass die Pflege des Vaters in der Demenz-WG richtig ist, ihr Herz und Pflichtgefühl sprechen eine andere Sprache. Aber sie könnte schrittweise lernen, das neue Leben und Wesen ihres Vaters zu akzeptieren.
Ich bitte Sie, künftig zu notieren, welche Situationen im Umgang mit Ihrem Vater sie besonders belasten und sich die Frage nach einer Lösung zu stellen. Dann soll sie überlegen, ob diese Lösung für sie umsetzbar ist oder, wenn das nicht der Fall ist, zu akzeptieren, dass die Situation nicht zu ändern ist. Dazu rate ich ihr, auch mit anderen Angehörigen von Bewohnern der Demenz-WG ins Gespräch zu kommen. Denn von den Erfahrungen anderer Betroffener könne auch sie lernen.Drei Wochen später treffen wir uns wieder.

„Das Aufschreiben fällt mir schwer“, gesteht sie. Doch sie habe sich mehrfach mit zwei anderen Angehörigen unterhalten. Beeindruckt habe sie die Erzählung eines Mannes, der täglich seine Frau besuche und mit ihr zu Mittag esse. „Wie mein Vater wurde auch sie zu Hause immer aggressiver, hat ihren Mann sogar geschlagen“, berichtet sie. Erst, als er selbst Depressionen bekommen habe, und ins Krankenhaus musste, sei er bereit gewesen, die häusliche Pflege aufzugeben. „Ich teile jetzt die Verantwortung für meine Frau mit Menschen, die sich mit Demenz viel besser auskennen“, habe er zu ihr gesagt: „Sie spürt, dass sie hier keinem zur Last fällt. Das gibt ihr Ruhe, sie wird nur noch selten wütend. Die Zeit, die wir täglich miteinander bringen, genieße ich jetzt. Sie ist doch immer noch meine Frau.“ Katja Faber berichtet mir, dass sie sehr viel über das Paar nachgedacht habe: „Wenn mein schlechtes Gewissen wieder ankommt, sage ich mir jetzt sofort, dass ich mich nicht vor der Pflicht drücke, sondern Verantwortung teile.“
Bewundernswert finde sie die Einstellung einer jungen Frau, die dreimal in der Woche ihre Großmutter besuche: „Sie geht so locker mit ihr um, obwohl die alte Frau wirklich anstrengend und auch mal peinlich ist: Sie singt, sie schimpft, sie weint, sie lacht. Dann will sie raus, dann ist es ihr da zu kalt…“ Katja Faber habe die Enkelin gefragt, wie sie es ertrage, die alte Frau nie zufriedenstellen zu können. Ihre Antwort: „Als ich in der Pubertät war, war meine Oma die Ruhe selbst und hat meine schlimmen Launen ertragen. Ich war oft ungerecht, aber ich konnte eben nicht anders. Jetzt haben wir die Rollen getauscht. Meine Oma kann auch nicht anders, das ist die Krankheit. Das habe ich akzeptiert. Sie ist immer noch meine süße Omi und richtig so, wie sie ist.“
Ich freue mich, dass Katja Faber erkannt hat, dass sie Verantwortung abgeben darf, und dass es hilft, eine unabänderliche Situation anders zu bewerten und zu akzeptieren. Diese Erkenntnis auf Dauer für sich umzusetzen, muss sie jedoch noch lernen. Dabei werde ich sie gerne begleiten.

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